Benni* wächst in einem System von Gewalt und Vernachlässigung auf. Bereits mit neun Jahren ist sie so verhaltensauffällig, dass keine Betreuungseinrichtung, keine Schule, keine Pflegefamilie sie mehr aufnehmen will. Bennis eigene Mutter ist mit dem Leben überfordert und kann die Liebe zu ihrem Kind in keine geordneten Bahnen lenken. Die Mutter kommt nicht, wenn sie sich zum Besuch ankündigt, verspricht Dinge, die sie nicht halten kann, und die Wut und Verzweiflung des Mädchens werden immer größer. Einmal entdeckt Benni eine Stelle im Wald, wo sie ihr eigenes Echo hören kann. Sie beginnt zu rufen: „Mama! Mama“, herzzerreißend, immer eindringlicher, immer lauter, immer wieder. Doch alles, was zurückkommt, ist der Nachhall ihrer eigenen Stimme. Ihre tiefe Sehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit, nach Aufgehobensein bleibt unerfüllt.

Wir kennen das: Wir stehen an einem Punkt in unserem Leben, wo wir verzweifelt rufen, doch wir hören nur unser eigenes Echo. Wir würden uns wünschen, dass es jemanden gibt, der uns tröstet, auf uns wartet, uns in den Arm nimmt, der sagt, ich höre dich, ich bin für dich da. Doch wir bleiben allein und ungehört. Manche werden an diesem Punkt wütend, manche verzweifeln, manche verstummen. In früheren Zeiten ließ man ein Baby nicht selten so lange schreien, bis es von selbst aufhörte, weil es die Hoffnung aufgegeben hatte, dass jemand kommt. Einige haben diese „Erziehungsmethode“ vielleicht selbst erlebt. Was lernen wir unbewusst aus einer solchen Erfahrung? Wir lernen, unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unsere tiefen Sehnsüchte zu unterdrücken, weil der Schmerz zu groß ist. Wir lernen wegzuschauen – bei uns selbst und bei anderen.

Und es stimmt ja: Es ist anstrengend, hinzuschauen. Wer steckt hinter der gut geschminkten Maske, was ist hinter den schönen Fassaden? Wir haben Angst, es zu sehen: das Leid, das Dunkle, den Schatten, womöglich uns selbst. Wie ehrlich sind wir mit uns und mit den anderen? Wie oft denken wir „Das kann nicht gut gehen“ und unternehmen nichts, damit es vielleicht doch noch gut gehen kann? Woher kommen die blauen Flecken bei einem Kind? Warum riecht der Kollege schon am Vormittag nach Alkohol? Was bedeuten die lauten Geräusche in der Nachbarwohnung? Warum ist die Frau im Frühzug so unglücklich? Warum sind wir so unglücklich? Wie viel von unserem Leben ist Hochglanz-PR und wie viel ist echt? Warum wollen wir immer perfekt sein? Sind wir den anderen nicht zumutbar, wenn es uns schlecht geht? Warum sagen wir auf die schnell hingeworfene Frage „Wie geht’s“ so oft „Danke, gut“, obwohl uns in Wahrheit vielleicht zum Weinen ist?

Wir schauen nicht hin, sondern wir schauen auf unser Smartphone und in unseren Laptop, wir schauen fern, weil uns das Naheliegende zu nahe geht, uns anrührt und uns eigentlich zum Handeln auffordert. Doch wir können uns nicht entschließen. Es fehlt uns der Mut. Wir bleiben lieber in der Komfortzone. Es ist anstrengend, etwas zu tun. Denn wer etwas tut, der riskiert immer. Ohne dieses Risiko, ohne die konkrete Tat, kann ich zwar den Misserfolg vermeiden, es kann aber auch nichts Gutes entstehen. Nur wer nichts tut, kann auch nicht scheitern. Unser Zusammenleben klappt aber besser, wenn alle Menschen immer ein bisschen mehr tun, als sie müssten. Das unterscheidet uns Menschen von den Maschinen. Denn im tiefsten Inneren wollen wir nicht nur funktionieren, wir wollen auch etwas für unsere Seele tun und für die Seele der anderen Menschen.

In Bennis Fall versuchen alle rund um sie herum ihr Bestes und stoßen immer wieder an ihre Grenzen. Aber scheitern sie deshalb auch? Ich finde nicht. Wir haben das Schicksal nicht in der Hand. Aber wir haben es in der Hand, dass wir schauen, uns berühren lassen, uns zu einer Handlung leiten lassen. Wir können den Ruf hören. Wir können Echo sein.

*Die Geschichte von Benni stammt aus dem grandiosen Kinofilm „Systemsprenger“. ´