„Nicht schon wieder!“ seufzt eine junge Kundin, die Tochter im Schlepptau, im kleinen Lebensmittelladen drunten an der Ecke. „Da fehlt es ja schon wieder an allem Möglichen, wie zu Beginn der Pandemie.“ Ein Rentnerpaar berichtet aufgeregt, im Iceland-Laden, ein Stück weiter, stünden bereits ganze Regale leer, der Nachschub sei ins Stocken geraten. Und bei Tesco müssten sie demnächst, weil es an Personal fehlt, die Öffnungszeiten reduzieren.

„Sorry“, zuckt Jane, unsere Verkäuferin, die Achseln. „Wir tun unser Bestes. Aber zu viele von uns, und von den Lieferanten, sind gepingt worden in letzter Zeit.“ „Gepingt“ bedeutet, dass die Covid-App auf dem Handy sich mit der Aufforderung zu zehntägiger Selbstisolation gemeldet hat bei dessen Besitzerin oder Besitzer – weil sie davon ausgeht, dass sich die Betreffenden zu lange in der Nähe eines positiv getesteten Mitbürgers aufgehalten haben irgendwann.

Drüben an der Tankstelle, wo sonst tagsüber nicht sonderlich viel los ist, haben sich an diesem Tag zwei lange Schlangen gebildet, mit ungehaltenen Fahrern und wütendem Gehupe.  „Die Leute haben morgens in den Nachrichten gehört, dass es auch da Versorgungsprobleme gibt, und dass alles nur schlimmer wird in den nächsten Tagen“, weiss es Jane zu erklären. „Offenbar soll es für Depot-Arbeiter jetzt Ausnahme-Regelungen geben, damit der Nachschub nur weiter rollt.“

Kater nach der Euphorie

So schnell kann es gehen, denkt man da: So schnell kann sich alles von Grund auf ändern. Vor kurzem noch herrschte Hochstimmung hier in London, hingen England-Fähnchen im Ladenfenster, bescherte „Euro 2020“ Tage regelrechter Euphorie.

Am Montag dieser Woche noch feierten Londons Boulevard-Blätter, die „Red Tops“, die Aufhebung so gut wie aller Covid-Restriktionen durch Boris Johnson – den Tag, den sie „Freedom Day“, Freiheits-Tag, getauft hatten. Zum Ende dieser Woche aber fehlt es bereits an Benzin, frischem Gemüse und der Zuversicht, die man erwartet hätte. Statt ihrer Freiheit zu frönen, sitzen Hunderttausende zuhause in Isolation.

Schon haben Pubs und Restaurants, die gerade erst die Plastik-Trennwände abgeräumt und ihre Theken blankpoliert hatten, wieder schließen müssen. Die langersehnte, für diese Woche geplante Rückkehr des West End, des Londoner Theaterviertels, zu neuem Leben, sieht sich erneut gestoppt.

Andrew Lloyd Webber etwa, der mit seinem Musical „Cinderella“ den Reigen zu eröffnen hoffte, musste alle Vorstellungen absagen, weil jemand in einer Nebenrolle ein positives Testergebnis erzielte. Er halte es nicht mehr aus, stöhnte Webber. Zum vierten Mal sei der Neustart geplatzt. „Cinderella geht nicht zum Ball“, lautete die mitfühlende Schlagzeile hernach überall.

Grund für die vielen „Pings“ – allein letzte Woche waren es fast 620.000 – ist natürlich die dramatische Zunahme der Neuinfektionen auf der Insel. Zwischen 40.000 und 50.000 werden jetzt jeden Tag gemeldet. Die Experten erwarten das Doppelte oder Dreifache für August.

Vor allem befürchtet man, dass die Aufhebung des Maskenzwangs, der Pflicht zu sozialer Distanzierung und anderer bisheriger Auflagen binnen kurzem zu jeder Menge neuer Ansteckungen führen wird. „Wir steuern“, sagt es Professor Andrew Hayward, ein Pandemie-Experte des University College London, „auf die grösste Welle an Covid-Infektionen, die wir je gesehen haben, zu.“

Allein schon die Bilder von der Wiedereröffnung der englischen Nachtclubs am „Tag der Freiheit“ lassen Covid-Forscher die Köpfe schütteln. Selbst der wissenschaftliche Chef-Berater des Premierministers, Sir Patrick Vallence, hat eingeräumt, dass Disko-Nächte dieser Art „das Potenzial haben, Super-Spreading Events zu werden“ – also Zusammenkünfte, bei denen man sich massenhaft anstecken kann.

Regierung rückt Test-Ergebnisse nicht heraus

Welche Konsequenzen in dieser Hinsicht die drei letzten „Euro 2020“-Spiele, drüben im Wembley-Stadion, gehabt haben, wo jeweils 60.000 Zuschauer zugelassen waren und sich zum Endspiel noch Tausende von Rabauken unkontrolliert Zugang zum Stadium verschafften, lässt sich bis heute nicht sagen. Die Regierung ist noch immer nicht bereit, die entsprechenden Test-Ergebnisse heraus zu rücken. Gutes verheißt dieses Zögern nicht.

Dabei war Wembley nur der Anfang. Zum Grossen Preis von Silverstone am vorigen Wochenende, dem berühmten Formel-1-Rennen, kamen gleich 140.000 Zuschauer. Und bei den am 30.Juli beginnenden wochenlangen BBC-Promenaden-Konzerten darf die Royal Albert Hall -  ohne Maskenpflicht - wieder mit voller Kapazität benutzt werden. Wer braucht noch Distanz?

Wenn aber erst die Fußball-Saison in drei Wochen wieder anläuft, müssen auch in Englands Stadien keine Plätze mehr frei gehalten werden. Dass nur doppelt geimpfte oder kurz zuvor getestete Fans eingelassen werden sollen, halten dabei selbst Fussball-Versessene für „einen Witz“. Echte Kontrollen, meinen sie, könne man jedenfalls „vergessen“. Und wer sich daheim oder im Pub trifft, um die Spiele dort zu verfolgen, bleibt eh unbehelligt von Fragen irgendwelcher Art.

Dazu kommt, dass angesichts der vielen Neuinfektionen das Test-and-Trace-System offenbar schon jetzt an seine Grenzen stößt in manchen Städten. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieses System mit 100.000 Fällen am Tag fertig wird“, hat im Namen etlicher seiner Kollegen Greg Fell, der Direktor der Gesundheitsbehörde von Sheffield, erklärt.

Test-Probleme, widersprüchliche Ratschläge seitens der Behörden, eine heillos verworrene Lage in Sachen Auslandsurlaub und nun auch noch eine „Pingdemie“, die bereits ein Zehntel der 27 Millionen App-Benutzer zum Löschen ihrer Apps, ihrer Verbindung zum Gesundheitswesen, veranlasst haben soll: Kein Wunder, dass Oppositionsführer Keir Starmer seinen Landsleuten einen „Sommer der Konfusion und des Chaos“ prophezeit.

Dabei hatte sich, für die Regierung, alles so gut angelassen. Mit dem Impfen hatte man früh begonnen. Die Aktion erwies sich, vom Rest Europas beneidet, als enormer Erfolg. Mittlerweile sind in Grossbritannien mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung und 70 Prozent aller Erwachsenen voll geimpft.

Auf dieser Basis hatte Premier Johnson geglaubt, dass er eine „Wiedereröffnung der Gesellschaft“ wagen, sein Land auf den „Weg zurück zur Normalität“ führen könne. Weil er davon ausging, dass hohe Infektionsraten nicht mehr automatisch schwere Erkrankungen oder Todesfälle zur Folge haben würden – dass die Verbindung ein für alle mal „unterbrochen“ war.

Diese Überzeugung führte zum „Freedom Day“, den seit langem auch die Tory-Rechte und Teile der britischen Presse, allen Warnungen unabhängiger Wissenschaftler zum Trotz, „zur Rettung der Wirtschaft“ und „zum Ende der allgemeinen Bedrückung“ gefordert hatten. „Unumkehrbar“ sollte dieser Weg zu einem neuen Leben ohne Restriktionen sein.

Inzwischen aber, keine Woche nach dem Ende des Lockdown, hat sich der Ton Johnsons und seiner Minister schon merklich geändert. Nunmehr ist die Verbindung von Infektionen und Erkrankungen nur „geschwächt“, ist die Schlacht „noch lange nicht gewonnen“. „Äusserst vorsichtig“ müssten sie sein, mahnt der Premier seine Mitbürger jetzt jeden Tag. Johnson selbst sitzt, seit er „gepingt“ wurde, auf seinem Landsitz Chequers. Ausgerechnet sein (doppelt geimpfter) Gesundheitsminister Sajid Javid hatte sich angesteckt.

Wird schon gut gehen

Es werde schon alles gut gehen, versichert unterdessen die Regierung. Sollte es zu „ganz außergewöhnlichen Umständen“ kommen, könne man natürlich „nichts ausschließen“, hat Boris Johnson jüngst, sehr leise, gesagt. Informationen aus Downing Street zufolge soll schon übernächste Woche geprüft werden, ob der „Freedom Day“ in diesem Juli wirklich das Richtige war für England – oder ob im Laufe des August wieder Restriktionen fällig sind.

Gewiss sei man sich bewusst, dass man „ins Ungewisse hinein“ marschiere, hat zuletzt sogar ein Regierungsmitglied, der Gesundheits-Staatssekretär Lord James Bethell, zugegeben. Diesen Schritt „ins Ungewisse“ aber halten viele Forscher auf der Insel für ein unglaubliches Vabanquespiel – und für verantwortungslos.

Sie warnen, dass es letztlich keine Garantie dafür gibt, dass mit den rekordhohen Infektionszahlen nicht auch die Zahl der Patienten wieder bedrohlich zunehmen wird in den nächsten Wochen. Für gut möglich halten selbst Regierungs-Berater einen Anstieg der Einlieferung von Covid-Patienten von gegenwärtig 800 auf 2.000 bis 3.000 am Tag.

Denkbar ist, falls es schlecht läuft, freilich auch eine Rückkehr zu mehr als 4.000 Notaufnahmen, wie im Januar dieses Jahres, auf dem Höhepunkt der zweiten Welle – und zu mehreren hundert Toten pro Tag, womöglich auf Monate hin.

„Ungläubig schaut die Welt auf uns“, hat Cambridge-Professor Ravi Gupta diese Aussicht beschrieben. Dem Virus in einer solchen Situation durch Aufhebung des Lockdown freie Bahn zu verschaffen, widerspreche aller Logik und sei „ehrlich gesagt kriminell“.

Als Resultat einer solchen Politik werde es erneut „unnötige Todesfälle“ geben, befürchtet Gupta. Er und andere Forscher haben die Regierung seit Wochen gedrängt, den Anti-Lockdown-Schritt (noch) nicht zu tun. Johnson liefere mit der neuen Covid-Flut nicht nur die gesundheitlich Schwächsten der Gesellschaft in allen Altersgruppen dem Virus aus und mache viele Behinderte und Immunschwache zu Gefangenen seines „Freiheitsdranges“.

Er riskiere auch eine weitläufige Verbreitung von „Long Covid“, nicht zuletzt unter den Jungen. Vor allem aber öffne er für gefährliche neue Varianten Tor und Tür. Es sei, klagt die oppositionelle Labour Party, als habe sich Boris Johnson entschlossen, „das Gaspedal durchzutreten und zugleich den Sicherheitsgurt zu lösen“. Das hält man in Downing Street für „Hysterie“, für vollkommen überzogene Angst.

Nicht weit entfernt von der Ladenzeile der Nachbarschaft, am Eingang zur örtlichen Klinik, hat sich unterdessen in der Mittagssonne eine kleine Gruppe Pfleger und Krankenschwestern zu einer Zigarettenpause zusammen getan. „Hier auf den Stationen ist eh schon alles überlastet“, erklären alle übereinstimmend auf eine entsprechende Frage. „Sämtliche Kliniken in England befinden sich im permanenten Ausnahmezustand.“

Fünf Millionen Menschen warten tatsächlich seit Monaten auf verschobene Behandlungen, auf irgendwelche – oft wichtigen – Operationen. Minister Javid selbst hat geschätzt, dass es bald schon 13 Millionen sein könnten. „Wäre es da nicht besser gewesen, die Infektionszahlen, während man weiter impft, so niedrig wie nur möglich zu halten?“

Stattdessen trifft man hier vor Ort neue Vorbereitungen fürs Eintreffen der ersten Krankenwagen mit Covid-Patienten. Nicht schon wieder, ist auch in dieser Runde das vorherrschende Gefühl. Aber niemand spricht es aus. Sie drücken nur ihre Zigaretten aus und schieben sich, während sie zurück zur Arbeit gehen, wieder die Masken aufs Gesicht.