Die radikalislamischen Taliban haben nach eigenen Angaben die letzte Bastion des Widerstands in Afghanistan eingenommen. Das Panjshir-Tal sei "vollständig erobert", erklärte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid Montagfrüh. Die Nationale Widerstandsfront (NRF) kündigte dennoch an, ihren Kampf "fortzusetzen". Doch was steckt hinter dem auf den ersten Blick aussichtslos wirkenden Widerstand?

Die afghanische Provinz bietet den Taliban in alter Tradition trotzig die Stirn: Das Panjshir-Tal war bereits in den 90er-Jahren eine Hochburg des Widerstands gegen die Islamisten und bisher noch nie unter deren Kontrolle. Vor drei Wochen formierte sich in dem Tal die NRF unter Führung des Sohnes des 2001 getöteten afghanischen Kriegsherrn und Taliban-Gegners Ahmad Shah Massoud sowie des ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans Amrullah Saleh. Letzterer twitterte am Tag der Eroberung Kabuls durch die Taliban: "Ich werde mich nie und nimmer und unter keinen Umständen den Taliban-Terroristen beugen. Ich werde niemals die Seele und das Vermächtnis meines Helden Ahmad Shah Massoud [...] verraten. Ich werde niemals mit den Taliban unter einer Decke stecken. NIEMALS."

Wie der Vater so der Sohn

Das Tal, rund hundert Kilometer nördlich von Kabul, konnte weder von den Sowjets in den 70er-Jahren noch von den Taliban später erobert beziehungsweise besetzt werden. Verantwortlich dafür sind wohl zwei Faktoren: die günstige Topografie und Ahmad Shah Massoud. "Der Löwe von Panjshir" war der einzige der bekannten militärischen und/oder politischen Führer Afghanistans, der während der Invasionen durch die Rote Armee und den Kämpfen mit den Taliban das Land nie verließ. Am 9. September 2001 gab Massoud zwei vermeintlich belgischen Journalisten ein Interview, bei dem eine Bombe hochging, die ihn tötete. In Wahrheit handelte es sich um zwei Selbstmordattentäter des Terrornetzwerkes Al-Kaida, die den Sprengkörper in einer Videokamera versteckten. Noch im selben Jahr wurde Massoud vom damaligen afghanischen Präsidenten Hamid Karzai zum Nationalhelden erklärt, sein Todestag ist ein nationaler Tag der Erinnerung.

20 Jahre nach Beginn der militärischen Intervention durch die USA wurden im August 2021 alle US-Streitkräfte aus Afghanistan abgezogen, die übrigen Nato-Länder schlossen sich der Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden an. Die Taliban konnten rasch Gebiet um Gebiet zurückerobern, worauf die afghanische Regierung die Macht weitgehend kampflos an die Terroristen übergab. Während die Taliban im Zuge ihrer Eroberungen in vielen Gebieten relativ wenig Widerstand erfuhren, präsentiert sich das Panjshir-Tal einmal mehr als gallisches Dorf. Doch diesmal ist es der Sohn des afghanischen Nationalhelden, Ahmad Massoud, der das Erbe seines Vaters weiterführt.

Machtdemonstration: Ein Taliban-Kämpfer am Massoud-Platz in Kabul am 16. August 2021.
Machtdemonstration: Ein Taliban-Kämpfer am Massoud-Platz in Kabul am 16. August 2021. © (c) AFP (WAKIL KOHSAR)

Ahmad Massoud ist eines von sechs Kindern des berühmten Widerstandskämpfers. Der ethnische Tadschike wurde 1989 in der nordafghanischen Provinz Takhar, an der Grenze zu Tadschikistan, geboren. Nachdem sein Vater ermordet wurde, zog er gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in den Iran, von wo aus er eine akademische Karriere in Großbritannien startete: Nach einem Jahr in der "Königlichen Militärakademie Sandhurst", in der das britische Heer seine Offiziere ausbildet, erwarb er am "King's College" einen Bachelor-Abschluss in "War Studies" und in weiterer Folge einen Master-Abschluss in internationaler Politik an der "City University London".

2019 trat er erstmals politisch in Erscheinung, als er sich im Panjshir-Tal als jene Persönlichkeit inszenierte, die in der Lage sei, das afghanische Volk zu vereinen und die aufstrebenden Taliban herauszufordern.Im Frühjahr dieses Jahres warnte er davor, dass Afghanistan "erneut in Chaos, Gewalt und Bürgerkrieg versinken" werde, sollten die US-Truppen zu hastig abgezogen werden. Das Abkommen zwischen der vorangegangenen US-Regierung und den Taliban verurteilte Massoud. Es sei ein Fehler gewesen, die afghanische Regierung nicht mit einzubeziehen.

Nach Schweizer Vorbild

Das Bild des verstorbenen "Löwen von Panjshir" als politisches Symbol.
Das Bild des verstorbenen "Löwen von Panjshir" als politisches Symbol. © (c) AFP (JOHN THYS)

In Folge der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sammelte Massoud Truppen gegen die Islamisten und rief zum abermaligen Widerstand auf. Widerstand, der bis zuletzt hielt. Nach gescheiterten Verhandlungen entsandten die Taliban Streitkräfte nach Panjshir, die nach schweren Kämpfen Gebietsgewinne in der Provinz vermeldeten. "Mit diesem Sieg ist unser Land vollständig aus dem Sumpf des Krieges befreit", freut sich ein Taliban-Sprecher. Die Nationale Widerstandsfront dementierte die Meldungen zwar nicht, erklärte am Montag, sie sei in "strategischen Positionen" präsent. "Der Kampf gegen die Taliban und ihre Partner wird weitergehen", hieß es von der Gruppe auf Twitter.

Worten, denen man aus Sicht der Taliban in Anbetracht der Vergangenheit Glauben schenken muss. Die Errungenschaften seines Vaters kommentiert Ahmad Massoud so: "Wir werden die Werte, für die wir gekämpft haben, nicht opfern." Auch die Vision seines verstorbenen Vaters, Afghanistan als dezentralisiertes Land nach Vorbild der Schweiz in eine friedliche Zukunft zu führen, sei der einzige Weg. Ein Weg, für den es sich zu kämpfen lohne.