Wir erleben in der Corona-Krise viel Neid und Missgunst. Es entsteht Empörung, wenn andere Regionen mehr Impfstoff haben oder die Menschen dort schon früher zum Friseur dürfen, es gibt Menschen, die beim Impfen vorgereiht werden. Aktuell geht es um einen Impfpass, damit man früher reisen kann. Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich neide?
KATJA CORCORAN: Ich bin vor allem ein Mensch, wenn ich neidisch bin. Neidempfinden ist eine soziale Emotion, die etwas höchst Menschliches ist. Man ist kein schlechter Mensch, nur weil man neidisch ist. Es gibt aber verschiedene Facetten dieser Empfindung und Neid kann mit destruktiven und aggressiven Verhaltensweisen verknüpft sein. Solche Verhaltensweisen sind wahrscheinlich zu Recht sozial unerwünscht. Aber das Gefühl Neid an sich ist meiner Meinung nach nicht zu verurteilen.

Was ist denn konstruktiver Neid?
Die Emotion Neid wird ausgelöst durch einen sozialen Aufwärtsvergleich. Jemand hat oder kann etwas, was ich nicht habe oder kann, aber auch gerne hätte oder könnte. Man wird sich dieser Diskrepanz bewusst und das tut weh. Dieser Unterschied motiviert mich aber auch, die Distanz auszugleichen.

Das klingt doch gut, oder?
Ja, aber nur, wenn ich Distanz versuche auszugleichen, indem ich selber verstärkt darauf hinarbeite. Wenn ich hingegen anfange, den anderen herunterzuziehen, dann ist das eine destruktive oder aggressive Richtung, die gemeinhin mit dem bösartigen Neid verknüpft wird. Im Deutschen gibt es die beiden Begriffen „Missgönnen“ und „Beneiden“. Missgönnen ist stärker mit solchem destruktiven Verhalten assoziiert. Ich missgönne dem anderen eine Sache und würde sie ihm am liebsten wegnehmen. In einigen Fällen drückt sich das auch so aus, dass ich die Person auf anderem Wege schlecht mache. In dem Fall geht es um seinen Status und nicht konkret um die Sache, die ich ihm wegnehmen will.

Sie kommen ursprünglich aus Witten, was nicht weit entfernt ist von Köln. Dort gibt im „Kölsche Jrundjesetz“, also den mundartlichen Regeln, die vor allem im Karneval zitiert werden, den Spruch: „Mer muss och jünne könne!“ Muss man gönnen können?
Man kann durchaus daran arbeiten, wie man auf soziale Aufwärtsvergleiche reagiert. Neid zu erleben, ist unangenehm und hat  eine Schmerzkomponente.  Ich kann aber damit konstruktiv umgehen können. Das lässt sich lernen. Neid bedeutet ja nicht immer, dass ich dem anderen das nicht gönne. Deshalb unterscheide ich stark zwischen Neid und Missgunst. Ich kann dem anderen eine Sache neiden und mir kann es wehtun, obwohl ich ihm das gönne. Ich will ihm die Sache nicht wegnehmen, hätte es eben nur auch gerne.

Neid muss einem also nicht peinlich sein, wenn man sich dabei ertappt?
Wenn ich feststelle, dass ich missgönne und dem anderen etwas Schlechtes wünsche, fände ich es durchaus wünschenswert, wenn man das nicht OK findet. Aber der Neid an sich, diese schmerzhafte Erkenntnis der Diskrepanz, muss mir nicht peinlich sein. Auch wenn es mir vielleicht lieber wäre, wenn ich mich einfach mitfreuen könnte, was zudem sozial akzeptabel wäre. Wenn wir beim Neid den Schmerz verstehen, dann ist das ein wichtiger Schritt. Wir streben oft nach Idealvorstellungen, haben Wünsche und Ziele. Wenn wir also das Feedback bekommen, dass wir noch nicht am Ziel angekommen sind, dann ist es grundsätzlich in Ordnung, Schmerz zu empfinden. Im Alltagsgebrauch denken Menschen oft zuerst an das aggressive Missgönnen, wenn sie über Neid sprechen. In der Wissenschaft spricht man gelegentlich auch vom „wahren Neid“, wenn man über die aggressive Form spricht, und die ist zu Recht gesellschaftlich verpönt.

Sagt die Ausprägung des Neids etwas über mein Wesen aus?
Es ist ein Indikator dafür, was ich mir wünsche. Ich bin ja nicht auf alles neidisch. Manchmal hat der andere vielleicht etwas und ist besonders stolz darauf, was mir aber gleichgültig ist. Dann bin ich darauf nicht neidisch. Manchmal ist einem nicht bewusst, wo man hin möchte. Und dann kann mir der Neid anzeigen, was mir wichtig ist. Gerade, weil unsere Wünsche komplex sind oder im Widerspruch zueinanderstehen.

Nennen Sie ein Beispiel?
Nehmen wir den Konflikt zwischen Abenteuer und Sicherheit. Es macht mich vielleicht neidisch, wenn sich jemand traut ganz neue Wege zu gehen und sich beispielsweise entscheidet, ein Jahr um die Welt zu reisen. Das würde mich auch reizen, aber es würde auch bedeutet, dass ich meinen sicheren Job kündigen müsste. Was passiert dann mit meinem Lebensstandard, mit den Dingen, die ich mir aufgebaut habe? Diese Gedanken halten mich zurück. Wenn ich nun immer wieder erlebe, dass ich auf solche Abenteuergeschichten mit starkem Neid reagieren, sollte ich mir überlegen, wo dieser starke Wunsch herkommt und ob mir die Gründe, die mich zurückhalten, wirklich so viel bedeuten.

Machen Missgunst und Neid dabei einen Unterschied?
Es gibt zwei Faktoren, ob ich mehr gutartigen oder bösartigen Neid empfinde. Zum einen, ob man denkt, dass die andere Person das wirklich verdient. Dabei geht es nicht unbedingt darum, ob er oder sie das objektiv verdient hat, sondern wie ich das subjektiv empfinde. Wenn sich jemand Vorteile erschleicht oder etwas zu Unrecht bekommt, dann löst das nicht unbedingt Neid aus.

Damit sind wir wieder beim Impfstoff.
Genau. Hier entsteht eher eine Form der Entrüstung. Ich empfinde die Situation als unfair und denke, dass das nicht mit korrekten Dingen zugegangen ist. Aber wenn jemand rein zufällig in den Genuss der Impfung kam, weil beispielsweise noch Impfdosen übrig waren, die schnell verimpft werden mussten und die Person zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort war, dann kann Neid entstehen. Und wenn ich denke, diese Person hat dieses Glück nicht verdient - aus welchem Grund auch immer - dann entsteht eher bösartiger Neid.

Und der zweite Faktor bei unserem Neidbeispiel?
Das ist die Kontrollierbarkeit. Wenn ich mir also vorstelle, dass ich dort selbst hinkommen könnte. Dann ist der Neid eher positiv. Wenn ich dabei aber feststelle, dass ich das nicht kann und über diesen Schritt keine Kontrolle habe, dann kann sich der positive Neid nicht einstellen. Beim Impfen ist es vielleicht schwierig, selber Kontrolle zu haben, aber in anderen Situationen haben wir durchaus Möglichkeiten. Wenn man bösartigen Neid empfindet, kann das also darauf hinweisen, dass man hier nur ein geringes Kontrollerleben hat. Woran liegt das? Traue ich mir zu wenig zu? Kann ich vielleicht Vorarbeiten leisten oder mir Fähigkeiten aneignen, damit ich Kontrolle bekomme?

Wenn ich dann selbst beneidet werde, ist das aber durchwegs ein gutes Gefühl, oder?
Keineswegs. Studien zum sozialen Aufwärtsvergleich zeigen, dass es sich nicht immer gut anfühlt, besser dazustehen als andere. Möglicherweise liegt das daran, dass man um die negativen Folgen des Neids weiß. Man weiß, dass der andere sich deswegen schlecht fühlt. Wenn ich der anderen Person nahestehe, dämpft das meine Freude.

Entwickelt sich der Neid in einer Krisensituation anders?
In unsicheren Situationen neigen wir verstärkt zu sozialen Vergleichen und schauen, wie es den anderen in der Krise geht. Das belegen auch Studien aus der Vergangenheit. Neid hat etwas mit Status zu tun und ist in Gemeinschaften wichtig. Wo steht wer und wie stehe ich im Vergleich zu anderen? Das ist etwas sehr Menschliches, weil wir in sozialen Gruppen zusammenleben. In Krisensituationen wird das Altbekannte infrage gestellt. Im Umbruch verliere ich eventuell Statusdinge. Ich muss mich neu orientieren und dabei können Neidgefühle entstehen.

Haben soziale Medien den Neid verändert?
Uns steht mehr Informationsmasse zur Verfügung und auch viel mehr Menschen zum Vergleich als ohne soziale Medien im Internet. Damit können wir uns auch mit viel mehr Menschen sozial vergleichen. Dabei kommt es auch darauf an, welche Informationen wir über die anderen erhalten. Menschen sind Selbstdarsteller. Wir präsentieren uns anderen. In den sozialen Medien haben wir aber mehr Möglichkeiten, uns sehr gezielt darzustellen und zu filtern. Ich kann meinen Freunden dort nur positive Bilder von mir zeigen, während meine Freunde im realen Leben leichter alle Seiten von mir sehen. Deshalb haben soziale Medien auch mehr Potenzial für den Aufwärtsvergleich.

Lässt sich destruktiver Neid abtrainieren?
Man kann darauf Einfluss nehmen, auch Neid lässt sich als Emotion regulieren. Neidreaktionen entsteht sehr schnell, werden dann aber weiterverarbeitet. Es lässt sich zum Beispiel trainieren, sich nicht in den negativen Gefühlen zu verlieren und in einer Spirale nach unten zu gelangen. Lenken Sie Ihre Gedanken weniger auf die andere Person, sondern auf die Sache, die Sie auch erreichen wollen und denken Sie über Ihre Möglichkeiten nach. Außerdem kann ich auch bewusst Situationen meiden, die einen Vergleich wahrscheinlich machen. Ich muss mir ja nicht die schönen Urlaubsbilder von anderen Personen auf Instagram anschauen.