Stellen Sie sich vor, Sie haben Halskratzen und Husten, aber Ihr Arzt will Sie absolut nicht in der Praxis sehen, weil er in Quarantäne muss, falls Sie „Omikron“ erwischt haben sollten. Ein klarer Fall für Telemedizin? Utopie ist das jedenfalls nicht mehr. Große Versicherungen sind schon auf diesem Pfad unterwegs und bieten ihren Kunden bereits sehr erfolgreich Online-Hilfe durch Ärzteteams an.

Aber eine Covid-Infektion mithilfe Künstlicher Intelligenz erkennen? 30 Sekunden sprechen, dreimal Husten und eine freundliche Stimme sagt „Oje“ oder „OK“ – ist das nicht illusorisch? Für Dagmar Schuller ist das gar keine Zukunftsmusik und kein bisschen illusorisch. „Wir haben 2020 bei Covid-Infizierten viele Marker in der Sprachproduktion identifiziert, die sich von anderen Atemwegserkrankungen klar unterscheiden“, sagt die Audeering-Geschäftsführerin.

Wie sehr unsere Stimme auch unsere Stimmung widerspiegelt, wissen wir intuitiv. Es sind Tausende Schwingungen, die sofort beim anderen ankommen – oft sogar unabhängig vom Inhalt des Gesprochenen. Diese feinen Unterschiede technisch extrem präzise zu erfassen und die Muster mittels Algorithmen zu nutzen, das war 2012 die Gründungsidee von Audeering, ein zusammengesetzter Name aus Audio und Engineering.

Dagmar Schuller gehörte damals mit ihrem Mann Björn schon zu den fünf Gründungsmitgliedern. Die Wirtschaftsinformatikerin, die mit 14 für ihre Traum-HTL aus Anger bei Weiz nach Wien ins Internat ging, behielt aber vorerst ihren Top-Job bei Hubert Burda Media.

© Audeering

Heute hat Audeering 80 Mitarbeiter, neben dem Hauptsitz in Gilching bei München gibt es einen Ableger in Berlin, weil sich dort die Start-up-Szene tummelt. 2016 hing die heute 46-Jährige die klassische Karriere an den Nagel, die sie unter anderem zum Beratungskonzern EY (Ernst & Young) geführt hatte, und wurde Audeering-Chefin. 2018 kam die dänische GN Group mit einem Minderheitsanteil an Bord. Die Dänen produzieren Teile für Hörgeräte, Kopfhörer und Callcenter-Headsets. Den GN-Anteil nennt Schuller aber genauso wenig wie den eigenen Umsatz.
Künstliche Intelligenz bedeutet bei Audeering, dass Software aus wenigen gesprochenen Sätzen 6000 Parameter analysieren und zuordnen kann, konkret 50 Gefühlszustände unterscheiden kann.

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Ein daraus entwickeltes Produkt erkennt etwa in Callcentern das Frust-Level von Anrufern. „Mitarbeiter in Callcentern sind ja vielem ausgesetzt, man kann so die Anrufe intelligent routen und das Stresslevel senken“, erklärt Schuller den Nutzen. Umgekehrt zeigt die Software dem Mitarbeiter, ob er tatsächlich freundlich oder doch eher unwirsch auf den Bittsteller reagiert.

"Auf Roboterplattformen installiert"

Emotionssensitive Technik wird auch schon zum Lernen eingesetzt. Schuller nennt als Beispiel die Ausbildung von Pflegekräften. „Das macht ein Kunde von uns in Großbritannien, wo in Virtual-Reality-Umgebung geübt wird und die künftigen Pfleger und Pflegerinnen Rückmeldungen bekommen, wie empathisch sie gegenüber den Patienten sind.“
Gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut hat Audeering ein Lernprogramm für autistische Kinder entwickelt. „Die Kinder können damit ihre sozioemotionalen Fähigkeiten trainieren“, so Schuller. „Es ist auf Roboterplattformen installiert, mit denen können Autisten sehr gut interagieren.“

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Ebenfalls im Gesundheitsbereich angesiedelt ist die von der EU geförderte Entwicklung einer App für die Erkennung von Depressionen bei Jugendlichen. Oft bleiben die unerkannt, weil es als normal gilt, wenn Jugendliche sich immer mehr zurückziehen. „Telemedizin ist eine der Zukunftstechnologien im Gesundheitsbereich“, ist Schuller überzeugt. „Meine Hoffnung ist, dass man in Zukunft insbesondere Gesundheitsvorsorge im großen Stil auch über das Handy betreiben kann.“