Familien sind in der Corona-Krise mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, Kinder leiden vermehrt unter psychischen Problemen. Psychiater berichten, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen in den Spitälern seit Krisenbeginn stark angestiegen ist: Vor allem Depressionen und Essstörungen haben sich bei vielen verstärkt oder sind zum ersten Mal aufgetreten. Auch Psychologen fordern, den Fokus in der Krise stärker auf Kinder und Jugendliche zu legen.

Deshalb wollen wir Familien bestärken und Antworten auf Fragen wie diese geben: Wie können wir Kinder möglichst unbeschadet durch diese Krise bringen, wenn es uns doch selbst oft nicht gut geht?

Expertin auf diesem Gebiet ist die Ärztin und Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger, die wir am Donnerstag, 28. Jänner ab 18:30 in einem Live-Gespräch auf www.kleinezeitung.at begrüßen durften. Außerdem schilderte Melanie Krispel-Bein, Mutter von vier Schulkindern, ihre Erfahrungen aus den Lockdowns. Moderiert hat das Gespräch unsere Redakteurin Sonja Peitler-Hasewend.

Hier können Sie das Gespräch nachschauen:

Einige Fragen und die dazugehörigen Antworten von Leibovici-Mühlberger haben wir hier für Sie zusammengefasst:

Was sind die größten Probleme vor denen Kinder und Jugendlich stehen? Was belastet sie besonders?

MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Kinder sind in der Entwicklung. Wenn man die Kinder hernimmt und Sie sich überlegen: Sie sind vier Jahre alt und bekommen ständig zu hören, mach das nicht, spiel nicht mit dem, greif das nicht an. Das sind antisoziale Botschaften. Mein jüngster Patient mit einem Waschzwang ist fünfeinhalb Jahre alt. Er hat schon ganz rote Hände. Wenn wir uns die Jugendlichen anschauen, dann sind sie am schlimmsten dran. Wir haben sie am allerlängsten drinnen sitzen lassen, wir muten ihnen am allerlängsten das Alleinesein zu. Wir haben eine wirklich bedrängende Situation. 50 Prozent unserer Kinder steuern in Richtung Vereinsamung, Depression und Esstörungen. Das ist nicht nur ein Befund, sondern ein Alarm.

Wie können Eltern für ihre Kinder da sein, wenn es ihnen auch schlecht geht?

Das ist eine hohe Belastungsprobe für alle Eltern. Wir müssen jetzt Steuerleute sein in unserem Familienschiff. Wenn ich in mir keine Balance und Stabilität habe, dann habe ich auch nicht die Kraft positiv für meine Familie da zu sein. Ich muss mir Zeit nehmen, um mich auf mich selbst zu Besinnen und für Dinge, die man braucht. Ob das der Spaziergang in der Natur ist oder das Lesen oder der Austausch mit einer Freundin. Das sind wesentliche Stabilisatoren, die wichtig sind um als Leitfiguren fungieren zu können.

Redakteurin Sonja Peitler-Hasewend mit Martina Leibovici-Mühlberger (rechts) und Melanie Krispel-Bein

Ich befürchte, dass meine Tochter aufgrund des zunehmenden Stresses eine Essstörung entwickelt. Was kann ich tun?

Zuerst einmal sollten Sie das Gespräch mit Ihrer Tochter suchen, versuchen herauszufinden, warum sie in eine Essstörung gekippt ist, was die Ursachen sind. Oft steckt Stress dahinter. In manchen Fällen lässt sich das Problem allein durch das Ansprechen in der Familie lösen. Funktioniert das aber nicht, braucht sie unbedingt professionelle Hilfe, vor allem wenn Ihre Tochter auch auffällig an Gewicht verliert.

Mein Sohn schleicht sich außer Haus um seine Freunde zu treffen. Was soll ich ihm sagen?

Ich habe gemeinsam mit den Jugendforschern Klaus Hurrelmann, Simon Schnetzer und mit Heinz Herczeg eine Studie zu Kindern und Jugendlichen in der Krise gemacht, die zeigt, dass sich die jungen Menschen nur zu einem sehr geringen Teil selbst gefährdet sehen, an Corona zu erkranken. Wobei für die große Mehrheit wichtig ist, sich rücksichtsvoll zu verhalten, um Freunde und Familie nicht zu gefährden. Etwa zwei Drittel der Befragten haben angegeben, sich an die Coronaregeln zu halten und auf Parties zu verzichten. Trauen Sie dem Kind Eigenverantwortung zu. Sprechen Sie mit Ihrem Kind, vermitteln Sie ihm, dass es in Ordnung ist, einen Freund im Freien zu treffen. Das ist wichtig für Kinder, es gibt ihnen Motivation und Kraft, so viel sollten wir ihnen zugestehen.

Mein 13-Jähriger Sohn will nicht mehr aus dem Haus gehen und isoliert sich zunehmend von seinen Freunden.

Hier ist es wichtig, mit dem jungen Mann zu reden. Wieso interessiert dich das nicht? Hat er Angst, traut er sich nicht aus dem Haus? Dann sollte man versuchen, ein Design für ihn zu stricken, damit er vielleicht doch einmal einen Freund trifft und sich austauscht. Für die Jüngeren ist es enorm wichtig, dass sie in Bewegung bleiben. Eltern sollten mit ihren Kleinen auf den Spielplatz gehen, andere Kinder zu treffen ist wichtig, sonst entstehen große soziale Defizite.

Mein Kind kommt einfach nicht vom Bildschirm weg, es isoliert sich und nimmt nicht am Familiengeschehen teil. Wie kann ich es dazu ermuntern?

Viele junge Menschen haben sich in den letzten Monaten in die virtuelle Welt zurückgezogen. Das reine Verbot greift nicht mehr so leicht. Es ist wichtig, dem Kind klarzumachen, dass man als Elternteil Verantwortung trägt, und ihm sagt: Ich kann dich nicht vor dem Computer versumpern lassen.

Unser Sohn (7) macht sich vermehrt Gedanken über die Händehygiene. Er scheint sich zu sorgen. Was können wir tun?

Das ist ein junger Mann, der nachzudenken beginnt. Kinder sind stark von der Umgebungsstimmung abhängig. Vermitteln Sie Ihrem Sohn, dass er zu Hause sicher ist, dass ihm dort nichts passiert. Es ist wichtig, dass Erwachsene Sicherheit ausstrahlen, denn gerade junge Kinder orientieren sich sehr stark an ihrer Umgebung.

Wie können Pädagogen ihre Schüler unterstützen? Gerade wenn sie sie kaum sehen?

Zunächst muss man sich fragen: Haben alle Schüler ein Endgerät, kann ich alle meine Schüler erreichen? Viele Pädagogen berichten davon, keine IT-Hilfe bekommen zu haben und ins Wasser geworfen zu sein. Pädagogen brauchen Anleitungen dafür, da hat man sie alleine gelassen. Es ist wichtig, dennoch zu versuchen die Klassengemeinschaft zusammenzuführen und den Kontakt zu den Schülern zu halten.

Bekommt man jetzt in der Stressituation ein Feedback wie schlecht oder gut man seine Kinder erzogen hat? Sprich: Wer seine Kinder gut erzogen hat, hat jetzt weniger Probleme?

Nein. Wir haben sehr verschiedene Gegebenheiten. Es macht einen Unterschied ob ich auf 70 Quadratmetern ohne Balkon mit drei Kindern oder in einem Anwesen am Stadtrand lebe und die Kinder eine Schule besuchen, an der man sich um das Distance Learning als Elternteil nicht kümmern muss. So einfach kann man das also nicht sagen.

Was kann ich als Oma oder Opa tun, um auch jetzt für mein Enkelkind da zu sein?

Auch die Großeltern stehen unter Druck. Wichtig ist, dass Großeltern im Kontakt bleiben, online oder über das Telefon, dass sie regelmäßig beim Enkelkind nachfragen, wie der Lebensalltag aussieht, und auch vom eigenen Alltag erzählen, auch die ganz banalen Dinge, vom Tortebacken zum Beispiel. Die Kinder sollen ein Bild davon bekommen, wie die Oma oder der Opa gerade die Zeit verbringt. Dadurch entstehen nicht so viele Lücken.

Jede Krise beinhaltet auch eine Chance. Welche Chancen gibt es für Kinder und Familien?

Wenn wir das Positive sehen wollen, dann müssen wir etwas tun. Wir könnten jetzt erkennen, dass Schule nicht nur Akademisierungsanstalt ist. Kindergarten und die Schule sind die große psychosoziale Drehscheibe unserer Kinder, dort lernen sie, Gesellschaft zu werden. Das Soziale ist so wesentlich, die Schule ist dafür die Bühne und die Plattform. Hier müssen wir dringend investieren. Wir müssen die Pädagogen als Bezugspersonen unserer Kinder erkennen, sie unterstützen. Wir müssen aus dieser Krise heraus die Bereitschaft entwickeln, hier zu investieren. Denn momentan sehen wir vor allem eines: Die Eltern, Pädagogen und die Kinder werden in dieser Krise im Stich gelassen.