Sie haben unter dem Hashtag #geschichteschreiben wahlgekämpft. Jetzt sitzen Sie tatsächlich als erste Afroösterreicherin im Wiener Gemeinderat und Landtag.
MIREILLE NGOSSO: Ich bin sehr glücklich, dass es geklappt hat, auch dank der ganzen Vorzugsstimmen, die ich bekommen habe (rund 4.000 Anm.). Eine Partei ankreuzen ist normal, aber dass so viele auch explizit meinen Namen hingeschrieben haben, dafür bin ich dankbar und für diese Menschen möchte ich jetzt Politik machen. 

Im März sind Ihnen die eigenen Parteikollegen auf Bezirksebene noch in den Rücken gefallen. Eigentlich hätten Sie als SPÖ-Spitzenkandidatin für den 1. Bezirk ins Rennen gehen sollen, für Sie als Bezirks-Listenerste fand sich aber keine Mehrheit. Letztendlich haben Sie auf Platz 27 der Landesliste kandidiert. Von der Verdrängten zu einer Galionsfigur für die SPÖ – wie war das für Sie? 
Es hat mich natürlich sehr verletzt. Ich konnte mir seit 2018 viel Expertise aneignen und hatte viele Pläne, die ich in der nächsten Periode im ersten Bezirk umsetzen wollte. Aber eine Türe hat sich geschlossen und die nächste hat sich geöffnet.

Der Partei den Rücken zuzukehren war nach dem Eklat im Frühling keine Option? 
Es fragen mich viele Leute, wieso ich nicht zum Beispiel für die Liste LINKS oder eine andere Partei kandidiert habe. Aber ich denke, dass es wichtig ist, dass Menschen wie ich sich in den etablierten Strukturen wiederfinden, wo am meisten vorangebracht wird. Es ist wichtig, dass Menschen mit Migrationsbiographie auch dort zu Wort kommen und mitbestimmen. Deshalb habe ich mich bewusst für eine Partei entschieden, die schon so etabliert ist. Ich hoffe, dass jetzt, wo ich im Gemeinderat bin, viel mehr Menschen mit Migrationsbiographie nachkommen. Die Politik muss genauso divers werden wie die Gesellschaft. Eine Ngosso im Gemeinderat und eine El-Nagshi im Nationalrat reichen dafür nicht. 

Was werden denn Ihre Hauptthemen in den nächsten fünf Jahren sein?
Ich bin für den Gesundheitsausschuss als Vollmitglied gewählt worden. Im Bildungs- und Integrationsausschuss bin ich Ersatzmitglied. Im Integrations- und Bildungsbereich werde ich den nationalen Aktionsplan gegen Rassismus einfordern. In der Bildung stehen Schulbuchanalysen an, außerdem braucht es mehr Lehrpersonal, vor allem auch für Inklusionspädagogik.

Und in der Gesundheit? 
Da geht es darum, die nächsten Monate bis zur Impfung gut zu meistern. Wir brauchen mehr ÄrztInnen und mehr Pflegepersonal. Außerdem braucht es mehr Mediziner, vor allem Allgemeinmediziner im niedergelassenen Bereich, um die Spitäler zu entlasten. Ich möchte versuchen, die Allgemeinmedizin als Beruf attraktiver zu gestalten, sodass auch Jungärzte Allgemeinmediziner werden wollen.  

Sie machen an der Klink Hietzing derzeit selbst die Facharztausbildung zur Allgemeinmedizinerin. Wie ist dort die momentane Corona-Situation?
Die Intensivstation ist voll, meine Station wurde deshalb kurzfristig zur Covid-Station umfunktioniert. Im Gegensatz zur Intensivstation beatmen wird aber nicht invasiv, sondern es wird mittels eines sogenannten „Airflows“ über die Nase Sauerstoff zugeführt. Wir bekamen nur eine kurze Einschulung und dann ging es los. 

Glauben Sie, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Politik wissen, wie es derzeit in einem Krankenhaus zugeht?
Nein, denke ich nicht. Und deshalb möchte ich meine Expertise im Gesundheitsausschuss einbringen. 

Was würden Sie als Gesundheitsstadträtin anders machen? 
Ich würde versuchen, mehr Pflegepersonal zu bekommen und hier vor allem mehr IntensivpflegerInnen. Ich kann nicht nachvollziehen, warum man den Sommer nicht dafür genutzt hat, Personal einzuschulen, sodass sie mit den Beatmungsgeräten und Covid-Patienten umgehen können. Wir haben alle gewusst, dass die zweite Welle kommt und hätten drei Monate Zeit gehabt uns vorzubereiten. Jetzt muss alles schnell schnell gehen, das kann ich nicht verstehen. 

Hätte Wien bei der Vorbereitung auf die zweite Welle mehr Druck auf den Bund machen müssen?
Ich war da noch nicht im Gemeinderat und weiß nicht, wie viel Druck gemacht worden ist und wie der Austausch zwischen rot-grüner Stadtregierung und schwarz-grüner Bundesregierung war. Fest steht, man hat drei Monate gehabt und sich einfach nicht vorbereitet. 

Wo werden Sie in den nächsten Jahren mehr Zeit verbringen – im Rathaus oder im Krankenhaus? 
Ich schließe meine Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin auf jeden Fall ab und reduziere vielleicht auf 30 Stunden pro Woche. Aber ausüben werde ich beides. 

Also einen Beruf aufgeben steht nicht zur Debatte? 
Nein, derzeit nicht. Das gibt mir auch eine gewisse Unabhängigkeit. Wenn es irgendwann mit der Politik vorbei sein sollte, habe ich immer noch meinen Job, den ich sehr gerne mache. Außerdem stehe ich jeden Tag auf, gehe in die Arbeit und habe mit der Bevölkerung dieser Stadt auch wirklich etwas zu tun. Ich bekomme davon sehr viel Input.

Sie sind nicht nur Politikerin und Ärztin, sondern waren in den letzten Monaten auch Aktivistin für die Black Lives Matter Bewegung und sehr aktiv auf sozialen Medien.
Es fließt alles ineinander, für mich funktioniert das sehr gut. Ich habe auch ein sehr gutes familiäres Umfeld, das mich bei der Betreuung meines 4-jährigen Sohnes unterstützt. Ich brauche diesen Austausch in der Arbeit und mit der aktivistischen Zivilgesellschaft, um eine gute Politikerin zu sein. Das treibt mich an. Ich weiß, das nicht’s von heute auf morgen gehen wird. Ich weiß, dass ich auch in meiner eigenen Fraktion sehr viel zu diskutieren haben werde. Aber ich bin davon überzeugt, mich einbringen zu können. Und vor allem freue ich mich auch, dass ich auch für die Zivilgesellschaft eine aktive Stimme sein kann und wir mit dem Druck gemeinsam etwas verändern können.