Er macht also ernst, und alles andere wäre eine Überraschung gewesen: Alexej Nawalny, der sich nach dem Nowitschok-Giftanschlag am 20. August zur Genesung in Deutschland befindet, kehrt am Sonntag nach Russland zurück. Er teilte es seinen Anhängern - und wohl auch dem Kreml, den er für den Anschlag verantwortlich macht - mit der gewohnten Unerschrockenheit und Ironie mit: Er werde, schreibt Nawalny auf Twitter, am Sonntag mit einem Flug der Linie "Pobeda" - "Sieg" - in Moskau landen - "holt mich ab!", schreibt er, mit einem zwinkernden Smiley.

Die Frage, ob er zurückkehren solle oder nicht, habe sich ihm nie gestellt, schreibt Nawalny - weil er bewusst ja gar nie aus Russland ausgereist sei, sondern nach dem Anschlag in Tomsk in einer Reanimierungsbox nach Berlin ausgeflogen wurde, wo er erst später aus dem Koma erwachte. Seine Anhänger reagierten in erster Linie besorgt: "Wozu machen Sie das? Sie landen sofort im Gefängnis!", warnten die einen. "Das ist eine Reise in den Tod!", warnten die anderen, und "Trinken Sie unterwegs bloß keinen Tee".

Drohungen

Tatsächlich muss man sich fragen, warum Nawalny, der nur um ein Haar überlebte, in ein Land zurückkehrt, das alles dafür getan hat, um ihn aus der politischen Arena fernzuhalten. Zwei Tage vor dem Jahreswechsel fiel den Behörden in Moskau plötzlich ein, dass Nawalny durch seine wochenlange Abwesenheit Bewährungsauflagen verletzt hätte, die ihm in einem umstrittenen Verfahren 2014 auferlegt worden waren. Nur einen Tag später teilte eine andere Behörde mit, gegen Nawalny sei ein Verfahren wegen angeblicher Unterschlagung von Spenden eröffnet worden. Viel deutlicher kann der Hinweis, dass bei einer Rückkehr Gefängnis droht, gar nicht mehr ausfallen. Immerhin macht der 44-Jährige Kreml-Chef Wladimir Putin persönlich verantwortlich, den Anschlag in Auftrag gegeben zu haben - was dieser scharf zurückweist. 

Man darf sich darauf verlassen, dass dem scharfzüngigen Juristen und Anti-Korruptionskämpfer durchaus klar ist, auf was er sich einlässt. Treibt es "Mister Todestrieb" jetzt zu weit? Hetzt den Vater zweier Kinder ein Kohlhaas'scher Gerechtigkeitstrieb in den Untergang?

"Ich glaube an das, was ich tue", sagt Nawalny selbst. Einschüchtern, das zeigt sein Kampf der letzten Jahre, ließ sich Nawalny schon bisher nicht. Doch im Grunde könnte es durchaus rationale und politische Gründe für seine Rückkehr geben. Seit etwa 15 Jahren versucht er auf verschiedensten Wegen, sich dem absoluten Machtanspruch Putins und der herrschenden Klasse entgegenzustellen. Immer wieder zerrte ihn die Staatsmacht vor Gericht, verweigert ihm die Möglichkeit, bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, diffamiert ihn als Agenten des Auslands und mit sonstigen Schmähungen. Nawalny gelang es dennoch, eine Art "Parallel"-Universum aufzubauen - über seinen Youtube-Kanal erreicht er sein Publikum auch dann, wenn die Staatsmedien nur über Putin berichten.

Killer-Kommando

Doch mit dem Giftanschlag, an dem laut Erkenntnissen des Recherche-Netzwerks "Bellingcat" mutmaßlich ein Killer-Kommando aus acht Mitarbeitern des russischen Inlands-Geheimdienstes FSB beteiligt war, erlangte Nawalny eine Bekanntheit in Russland, die er ohne diesen nie erreicht hätte. Millionenfach wurde der Audio-Mitschnitt geklickt, in dem Nawalny seinen eigenen potenziellen Mörder - einen der FSB-Mitarbeiter anrief und diesem tatsächlich ein Geständnis abrang - inklusive der Information, dass das Gift an der Unterhose Nawalnys angebracht worden sei.

Putin mag versuchen, Nawalnys Bedeutung kleinzureden und weiterhin vermeiden, dessen Namen auch nur öffentlich auszusprechen. Nawalny kehrt zurück als Mann, der einen Anschlag des FSB überlebt hat; als angeblich völlig unbedeutender Oppositioneller, den doch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Krankenhaus besucht hat; und als Anti-Korruptionskämpfer, hinter den sich jetzt auch Teile der liberalen Opposition stellten, die bisher mit den teils nationalistischen Tönen Nawalnys nichts anfangen konnten.

Der Zeitpunkt für die Rückkehr ist günstig. Doch das Risiko ist enorm.