Schulen, öffentliches Leben und Wirtschaft werden auch in Südtirol heuer zum zweiten Mal heruntergefahren. Wie dramatisch ist die Lage?
ARNO KOMPATSCHER: Wir haben schlechte Zahlen. Die Intensivtherapiebetten für Covid-Patienten sind zur Hälfte ausgelastet. Der Hospitalisierungsgrad ist hoch. Der Druck hat zum Glück in den letzten Tagen zwar etwas nachgelassen. Wir haben aber immer noch täglich viele Neuinfektionen. Das Virus ist diffus im Land verbreitet.

Wie erklären Sie die dramatische Verschlechterung?
Wir haben jetzt sicher auch die Rechnung für den Sommer präsentiert bekommen. Im Sommer schien es vielen Menschen so, als ob die Pandemie besiegt sei. Es galten zwar die Regeln: Abstand, Masken, Hygiene der Hände, Vorsicht. Aber das Leben, das wir alle geführt haben, war dem normalen ziemlich nahe. Man war sehr oft unvorsichtig. Wir hatten sehr viele Touristen im Land. Der Monat August war der mit den meisten Nächtigungen in der Tourismusgeschichte Südtirols.

War das Präventionsmanagement der Politik in Südtirol über den Sommer zu wenig energisch?
Man hätte immer mehr tun können. Aber wenn Sie, wie es bei uns war, über Wochen hin bei Tausenden Tests null oder ein, zwei Neuinfektionen haben, zum Glück keinen Toten, wie setzen Sie strengere Maßnahmen durch? Das wäre politisch kaum möglich gewesen. Überall in Europa wird der Politik jetzt vorgeworfen, sie habe im Sommer zu wenig gemacht. Wir haben sehr wohl viel gearbeitet. Wir haben Intensivtherapiebetten aufgebaut, Stufenpläne für die Betreuung in den Krankenhäusern entwickelt, alle mit Schutzkleidung und Testmaterial ausgestattet und Abläufe automatisiert. Und wir haben die Ärzteteams entsprechend geschult. Aber wir haben heute ein Vielfaches der Infektionszahlen vom Frühjahr. Hätten wir sie früher gehabt, wäre unser Gesundheitssystem zusammengebrochen. Es gibt auch keine seriösen und vor allem ehrlichen Virologen und Epidemiologen in Europa, die sagen, sie hätten die zweite Welle in dieser Heftigkeit und vor allem zu diesem Zeitpunkt vorhergesagt. Das hat alle überrascht.

Sind die Südtiroler genauso coronamüde wie die Österreicher?
Die Menschen sind müde geworden. Seit vielen, vielen Monaten gibt es Einschränkungen, immer wieder neue schlechte Nachrichten und vor allem nie eine klare Aussage dazu, wie es in vier Wochen, zwei Monaten aussehen wird. Ist es dann vorbei? Die Menschen möchten gern Garantien dafür haben. Die kann weder die Wissenschaft noch die Politik liefern. Das ist natürlich frustrierend. Das Screening, das wir jetzt machen, führt zu einer Mitnahme der Bevölkerung. Man kann endlich aktiv einen Beitrag leisten. Jeder und jede ist gefordert, jetzt auch einen Teil der Verantwortung mit zu übernehmen, sich zu beteiligen. Man sieht darin durchaus eine Chance. Das wirkt positiv.

Wie werden die Massentests in Südtirol angenommen?
Bis jetzt sind unsere sehr optimistischen Erwartungen sogar übertroffen. Aber wir müssen das Endergebnis abwarten.

Die Massentests sind nicht unumstritten. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Der Massentest ist mit Sicherheit kein Allheilmittel und auch nicht die Lösung des Problems. Die wird – das hoffen wir alle – irgendwann eine flächendeckende Impfung sein. Aber kombiniert mit den erfolgten Maßnahmen zur Einschränkung der Kontakte zwischen den Bürgern ist es ein weiteres Element, das uns helfen kann, den Lockdown zu verkürzen, weil wir damit viele asymptomatisch Positive herausfiltern können. Aber klar ist, es bleibt keine Einmalaktion. Wir werden aufgrund eingehender Analyse der Daten in einzelnen Gemeinden, Bezirken, Risiko- und Personengruppen weitere Screenings durchführen.

Südtirol ist vom Tourismus in ähnlich großem Maße abhängig wie Österreich. Mit welchen Ängsten und Konzepten gehen Sie in den Winter?
Das Screening und die Lockdownmaßnahmen dienen dazu, das Gesundheitssystem zu entlasten und damit einhergehend die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir die Schulen wieder vermehrt öffnen können. Danach geht es darum, dass wir auch die wirtschaftlichen Aktivitäten wieder in Gang bringen, den Handel, aber auch die Gastronomie. Das Thema Skisaison liegt aus heutiger Perspektive noch in relativ weiter Ferne. Ich würde jetzt hier nicht Prognosen abgeben. Ich sage es umgekehrt: Eine normale Skisaison zu Weihnachten werden wir aus heutiger Sicht wohl nicht haben.