Sie haben die „Generation Haram“ beleuchtet, junge muslimische Männer und Frauen und ihre Ansichten. Wie wirkt sich der Anschlag in Wien auf sie aus?
Melisa Erkurt: Ich höre von ersten Übergriffen auf Mädchen und Frauen mit Kopftuch, die als Terroristinnen beschimpft werden. Die Angst ist berechtigt, dass der antimuslimische Rassismus wächst – und damit genau das geschieht, was Terroristen bezwecken wollen. Zu Übergriffen auf junge Burschen kommt es aber selten, weil man vor ihnen Angst hat.

Warum fürchtet sich die Gesellschaft vor ihnen?
Weil wir ihr Aussehen mit Bart und dunklen Haaren mit dem Täterprofil von Terroristen assoziieren. Es gibt aber Jugendliche, die mit dieser Angst spielen und sie bewusst verstärken – indem sie absichtlich den IS-Zeigefinger auf Fotos hochheben oder „Allahu akbar“ Rufe (Anm.: „Gott ist groß“ auf Arabisch) als Klingelton einstellen und Passanten in der U-Bahn damit verängstigen. Sie machen sich daraus einen Spaß.

Warum tun sie das? Um sich stark zu fühlen?
Es ist eine Form der Rebellion, die man von Teenagern kennt. Im Fall muslimischer Burschen geht es auch um ein Bestätigen der Vorurteile. Warum soll man versuchen, aus einer Rolle auszubrechen, die einem ohnehin zugeschrieben wird? Viele sehen kein anderes Potenzial bei sich als das Gefahrenpotenzial. Ein Mohammed und ein Ali werden in diesem Land nie Bundeskanzler werden, obwohl sie hier geboren sind. Auch sonst findet man sie kaum in etablierten Jobs. Macht über Angst ist die einzige, die für sie erreichbar scheint. Das bedeutet noch lange nicht, dass sie auf die Straße gehen und Leute umbringen.

Wie erkennt man den Unterschied zwischen Großmaul-Provokation und echter Gefahr?
Wenn man fragt, wo sich das, was sie sagen, im Koran findet, merkt man schnell, dass hier null theologisches Wissen dahintersteckt. Und wenn man sich die Täterprofile von Radikalisierten anschaut, waren das nicht großgoscherten Buben, sondern die Zurückhaltenderen und Stillen. Während die laute Art ein Hilfeschrei ist, wollen die Radikalisierten ja gar keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wollen das verstecken.

Was macht diese Burschen anfällig für Radikalisierung?
Neben dem Umstand, dass man in Krisenzeiten wie der Pubertät generell anfällig für Beeinflussung ist, spielt sicher auch das Narrativ der Muslime mit, kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden zu können. Und wenn sie ein guter Moslem sind, haben sie wenigstens irgendetwas erreicht. Und vielleicht kommen dann auch noch Probleme in der Familie dazu. Hassprediger und Extremisten erkennen solche Phasen oft besser als Pädagoginnen und Pädagogen. Sie füttern diese Unsicherheit mit Hass anstatt mit Zuversicht. Und weil jungen Menschen differenziertes Denken oft noch fremd ist, wird ihnen eine Welt in Schwarz und Weiß vorgegeben, was Orientierung schafft. Der Islamismus ist für sie schlicht eine einfache Antwort.

Wo radikalisieren sich junge, muslimische Männer?
90 Prozent passiert über Soziale Netzwerke. Radikalisierer haben erkannt, dass sie über Videos und Ego-Shooter-Spiele viel erreichen können, weil diese meist unreflektiert konsumiert werden. Zudem wird auch viel mit dem Versprechen von Jungfrauen gearbeitet, die im Paradis warten. Frauen sind in der Pubertätsphase ein wichtiges Thema.

Also geht das öffentlichkeitswirksame Schließen von Moscheen am Problem vorbei, wenn die Ansprache online stattfindet?
Wenn man in einer Moschee ist, in der gefährliches Gedankengut gepredigt wird, ist das für die, die sich online radikalisiert haben, zusätzliche Bestätigung. Aber: Nur weil Moscheen geschlossen werden, verschwindet das Gedankengut nicht. Zudem sind diese Menschen nur in radikalen Häusern unterwegs. Normale Moscheen sind ihnen viel zu lasch, der durchschnittliche Imam ist für sie ein Ungläubiger. Ich glaube, dass der Großteil der Moscheen eher deradikalisiert, weil sie Gewalt ablehnen. Aber bei vielen kommt das zu spät.

Wie kann man einer Radikalisierung dann entgegenwirken? Das Ziehen des Wlan-Router-Steckers wird wohl zu wenig sein.
Wenn jemand drin ist in dieser Welt, ist es schwer, ihn rauszukriegen – egal, wie engagiert es Pädagogen und Deradikaliserungsstellen versuchen. Mir hat ein Jugendlicher, den ich in einem Schulprojekt begleitet habe und der still und unauffällig war, nach Veröffentlichung meines Buches geschrieben, dass ich keine Muslima sei, sondern eine Ungläubige, die vor dem Jüngsten Gericht bestraft wird. Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas schreiben würde.

Also gleich aufgeben?
Man muss früher ansetzen und schon mit Kindern über Extremismus und seine Darstellung in Sozialen Netzwerken sprechen, bevor sie diese nutzen. Und darüber, wie schnell man in diese Kreise geraten kann. Aber auf keinen Fall mit alleinigem Fokus auf Muslime, weil diese dann erst recht das Gefühl haben, dass mit dem Finger auf sie gezeigt wird. Mit ihnen erst darüber zu reden, wenn sie 16 sind und diese Inhalte bereits konsumiert haben, wird schwer. Zudem können sie ihre Radikalität dann schon gut verbergen.

Wird die Extremismus-Erklärung allein nicht zu wenig sein?
Das Wichtigste wäre, zusätzlich ein Verständnis für Demokratie zu vermitteln. Damit die Jugendlichen früh die Vorteile einer solchen erkennen und sehen, dass sie Mitspracherecht haben. Schulen mit diesem Schwerpunkt gibt es, aber vorrangig nur in Einrichtungen, die keine Brennpunktschulen sind. Dort liegt der Fokus auf viel grundlegenderen Dingen wie Spracherwerb, heißt es dann. Aber was kann es Grundlegenderes geben als Demokratieerziehung? Damit könnte man sicherlich einiges vorbeugen.

Angesichts mangelnder Sozialpädagogen und Psychologen wohl keine einfache Aufgabe.
Dabei wären gerade sie wichtig, denn Pädagogen allein können das nicht stemmen.

Welche Rolle spielen die Eltern?
Wenn es um Radikalisierung geht, spielen sie kaum eine Rolle. Die meisten Täter haben sogar eine schlechte Beziehung zu den Eltern, denn die überwiegende Mehrheit würden ablehnend reagieren. Wenn sie es überhaupt mitbekommt.

Die Regierung will wachsamer sein und den „politischen Islam“ verbieten lassen. Eine gute Idee?
Wenn daraus eine Art Sonderrecht für den Umgang mit Muslimen wird, würde das den Extremisten erst recht in die Hände spielen. Sie könnten sagen: „Schau, ihr als Muslime werdet anders behandelt, ihr werdet extra überwacht.“ Ein allgemeiner Extremismus-Tatbestand wäre hingegen gut und wichtig.

Die muslimische Community war beim Anti-Terror-Paket nicht wirklich eingebunden. Ein Fehler?
Einbindung ist nie schlecht, ich weiß aber nicht, wie viel die Community hier helfen kann. Sie steht den radikalen Muslimen genauso ratlos gegenüber, wie alle anderen. Denn Radikale engagieren sich nicht bei normalen Vereinen. Aber es wäre ein schönes Signal gewesen.

Müssen Muslime selbst mitarbeiten, um ihren Stand in der Gesellschaft zu verbessert?
Ja, das tun sie auch. Die Muslimische Jugend war eine der ersten, die einen Trauermarsch organisiert hat und sich gegen Terror ausgesprochen hat. Aber auch die Community kommt nicht durch zu Extremisten. Denn das sind keine Muslime.