"Auf engstem Raum sehen wir hier die Entwicklung der Stadt von der Monarchie über die Republik über den Faschismus bis hin zu einer demokratischen Gesellschaft“, sagt Michael Ludwig und deutet von der Hofburg zum Ballhausplatz zum Parlament. Wir sitzen im Volksgarten, dem erste Park, der in Wien für Bevölkerung geöffnet wurde. Dass der promovierte Historiker und Politologe auch Politiker im Wahlkampf ist, kommt zeitverzögert durch: „Es war eine erschreckende, völlig unverständliche Intervention der Bundesregierung, die Bundesgärten in der Coronakrise zu schließen.“

Den Volksgarten hat er als Gesprächsort ausgesucht, weil er viel über Wien erzählt - und über das Verhältnis zwischen der Stadt und dem Bund. „Ich wundere mich über die Anti-Wien-Stimmung, die von manchen Teilen der Bundesregierung gefördert wird“, sagt er: „Offensichtlich fühlen sich viele Menschen aus den Bundesländern sehr wohl hier, sonst würden nicht so viele zum Studieren und Arbeiten nach Wien kommen.“

Als Gesprächsort wählte Michael Ludwig den Volksgarten, der von der Bundesregierung während des Lockdown geschlossen wurde.
Als Gesprächsort wählte Michael Ludwig den Volksgarten, der von der Bundesregierung während des Lockdown geschlossen wurde. © (c) Christoph Kleinsasser (Christoph Kleinsasser)

Ludwig selbst hat - anders als die meisten Wiener - in seiner jüngeren Familiengeschichte keinen Migrationshintergrund aus dem Ausland oder einem anderen Bundesland. Er wuchs als Sohn einer Hilfsarbeiterin auf und legte einen sozialen Aufstieg nach dem Drehbuch der Sozialdemokratie hin: Vom Arbeiterkind zum Dr. phil. Vom Parteiarbeiter zum Bürgermeister. Das Universum der Wiener SPÖ verließ er dabei nie. 2007 folgte er Werner Faymann als Wohnbaustadtrat. 2018 gewann er in einer Kampfabstimmung gegen Andreas Schieder und wurde im Mai des gleichen Jahres Wiener Bürgermeister. Aller Voraussicht nach wird er es auch nach der Wahl noch sein. „In der Krise muss Politik beruhigend und vertrauenserweckend wirken“, sagt er. In Umfragen liegt die SPÖ bei 42 Prozent.

Von den Repräsentationsbauten an der Ringstraße leitet Ludwig über: „Die Schattenseite waren die schlechten Lebensumstände der allermeisten Wiener“. Die Sozialdemokratie habe deshalb immer das Thema Wohnen ins Zentrum der politischen Arbeit gestellt. Ab 4. Mai 1919 - das weiß Ludwig genau - tat sie das. Damals erlangte die SPÖ erstmals die absolute Mehrheit in Wien. Heute leben 62 Prozent der Wiener in sozial geförderten Wohnungen.

Michael Ludwig mit Alt-Bürgermeister Michael Häupl kurz vor der Amtsübergabe 2018.
Michael Ludwig mit Alt-Bürgermeister Michael Häupl kurz vor der Amtsübergabe 2018. © (c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)

Wie groß das historische Selbstbewusstsein der Ludwig-SPÖ ist, zeigte sich auch bei der diesjährigen Feier zum 1. Mai, die coronabedingt ins Internet verlegt wurde. Eine aufwändig gestaltete Dokumentation zeigte die Errungenschaften der SPÖ. Von der Zukunft war hingegen keine Rede.

Zu einer Arbeitszeitverkürzung wie sie die SPÖ im Bund und die Grünen in Wien fordern, sagt er nur: „Generell ein wichtiges Thema, aber in der Form eher ein Wahlkampfgag.“ Die Pläne zur autofreien Innenstadt von Vizebürgermeisterin Birgit Hebein, machte er mit einem Rechtsgutachten wenige Tage vor der Wahl zu nichte. „Ich bin auch für Verkehrsberuhigung, aber mit einer umsetzbaren Lösung“.

Michael Ludwig mit Innenpolitik-Redakteurin Veronika Dolna.
Michael Ludwig mit Innenpolitik-Redakteurin Veronika Dolna. © (c) Christoph Kleinsasser (Christoph Kleinsasser)

Und das Reizthema Integration spart er am liebsten aus. In seiner 70-minütigen Rede zum Wahlkampfauftakt erwähnte er „Integration“ kein einziges Mal. „Weil es eine Durchschnittsmaterie aus allen Ressorts ist“, sagt er. „Wir behandeln Menschen aus anderen Ländern nicht anders“. Der ÖVP gehe es „darum, Migration negativ zu deuten und auf Problem aufmerksam zu machen. Das ist maximal eine Analyse.“

Auch Ludwig ist ein guter Analytiker. Eine große sozialdemokratische Vision der Zukunft zeichnet er nicht. Aber zumindest bei dieser Wahl dürfte es für ihn nicht nötig sein.