Herr Professor, der Bundespräsident, den Sie beraten, hat in den vergangenen Jahren mehrfach „Eleganz und Schönheit der Verfassung“ gelobt. Worin äußert sich diese denn?
LUDWIG ADAMOVICH: Er hat das selbst formuliert. Gemeint hat er das klaglose Funktionieren in sensiblen Situationen. Dass damit nicht eine Eleganz im Sinne von Museum und Bildern gemeint war, ist ja wohl klar.

Teilen Sie seinen Befund von Schönheit und Eleganz?
Wenn man sieht, wie sie trotz aller Schwierigkeiten funktioniert: Das ist beachtlich.

Die Verfassung hat es auch 1933 schon im Wesentlichen in der heutigen Form gegeben. Wie kann man erklären, dass sie heute in der Krisensituation funktioniert – und damals nicht?
Das ist ganz einfach. Damals und heute sind unterschiedliche Personen am Werk. Heute ist niemand darauf aus, einen Umsturz durchzuführen, 1933 aber sehr wohl. Das ist der wesentliche Unterschied.

Die Verfassung an sich ist also nicht der große Schutzwall gegen den Fall der Demokratie, sondern es kommt auf die Personen an?
Natürlich. Die beste Verfassung nützt nichts, wenn sie nicht angewendet wird. Das ist damals ganz einfach nicht geschehen. Wahrscheinlich hat man nur auf die Gelegenheit gewartet, die durch die Selbstlähmung des Nationalrates auf dem Präsentierteller dargeboten worden ist.

Heute feiern wir mit 100 Jahre Beschluss des B-VG die Geburt unserer Verfassung. Was war aus Ihrer Sicht damals die größte Innovation?
Dass sie überhaupt entstanden ist. Und dass es gelungen ist, die äußerst kontroversiellen politischen Meinungen dann doch in einem Kompromiss zu einem Dokument zusammenzubringen. Man hat einen Text zusammengebracht, der gewisse Sachen offengelassen hat, weil man gesagt hat, schauen wir, dass wir weiterkommen, und über das andere reden wir noch.

Diesen Kompromiss sieht man an vielen Stellen der Verfassung, etwa was die Zuständigkeiten in Schulsachen angeht.
Das Schulwesen hat man zumindest pragmatisch gelöst durch die Frage der Schulbehörden. Die Kompetenzverteilung als Ganzes ist der ganz große Fleck, der sich leider auch im Verfassungstext findet.

Der langjähriger Höchstgerichts-Präsident beim Gespräch in der Wiener Kleine-Redaktion
Der langjähriger Höchstgerichts-Präsident beim Gespräch in der Wiener Kleine-Redaktion © Christoph Kleinsasser

Die Verfassung war ein Bruch mit der Monarchie – die Grundrechte, das Staatsgrundgesetz 1867 hat man aber übernommen. War das nicht ein Fehler, dass die Republik keinen eigenen Grundrechtekatalog formuliert hat?
Nein. Vor allem muss man sagen, dass heute die Grundrechte in der Europäischen Menschenrechtskonvention mit ihren Zusatzprotokollen vorkommen sowie in der Grundrechtecharta der EU und vielen mehr – nicht mehr nur im Staatsgrundgesetz. Etliche Grundrechte sind dazugekommen, wie das Fernmeldegeheimnis, die Freiheit der Kunst, Rechte der Kinder und ein neues Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit.

Eine Umfrage zeigt, dass der überwiegende Teil der Österreicher nicht einmal eine Handvoll dieser Dutzenden Grundrechte benennen kann. Ist das ein Versäumnis der Rechtswissenschaft?
Der Rechtswissenschaften vielleicht nicht, aber jedenfalls der Bildungseinrichtungen. Aber die praktische Bedeutung der Grundrechte ist auch höchst unterschiedlich. Es gibt solche, die sind in der Praxis nicht oft anzuwenden, und es gibt solche, die sind ganz wichtig, angefangen beim Schutz der persönlichen Freiheit und des Lebens. Das ist gerade ein hochaktuelles Thema im Zusammenhang mit der Tötung auf Verlangen.

In Österreich spricht man sehr oft von einer Realverfassung. Wie empfinden Sie den Umgang der Politik mit der Verfassung? Zwinkert man zu oft mit den Augen?
Ich glaube, dass es nicht so arg ist, ich würde fast sagen, es ist besser geworden. Warum? Die Zeit, in der ein solcher Zustand war, oder, wie Sie ihn vorher beschrieben haben, zur Zeit der Großen Koalition, da war es natürlich wirklich so. Heute ist das anders, denn für eine Verfassungsbestimmung braucht man zumindest eine Oppositionspartei und die schaut ja auch genau hin. Außerdem hat ja ein Teil der Abgeordneten die Möglichkeit, Gesetze beim Verfassungsgerichtshof anzufechten.

Der Verfassungsgerichtshof muss immer wieder gesellschaftspolitische Fragen entscheiden, etwa die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern oder die Tötung auf Verlangen. Macht es sich die Politik zu leicht, solche Entscheidungen den Verfassungsrichtern zu überlassen?
Das ist zweifellos manchmal ein Problem, aber das gibt es anderswo auch. Ungemütlich wird es, wenn die Politik erkennbar etwas abschiebt an den Verfassungsgerichtshof und dann über die Entscheidung schimpft. Das geht nicht.

Österreich hat eine stark zersplitterte Verfassung. Wäre es nach 100 Jahren nicht Zeit, ein durchgängig lesbares Dokument aufzustellen?
Das hat man versucht. Es hat einen Österreich-Konvent mit sehr hochrangiger Zusammensetzung gegeben, aber was ist dabei herausgekommen? Ein Verfassungstext, den der Präsident Fiedler ausgearbeitet hat, der nur leider keine Mehrheit gefunden hat.

Wäre es sinnvoll, eine Entschlackung vorzunehmen, damit es für die Bürger auch greifbarer wird?
Man kann natürlich entschlacken. Nur: Jede sensible Sache kommt dann irgendwann zum Verfassungsgericht und dort spielt sich dann der Prozess ab, von dem vorhin die Rede war. Er entscheidet und irgendeiner klagt. Das ist wie das Amen im Gebet.