Die völlig neuen Rahmenbedingungen, die die Niederlage der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg für ganz Mitteleuropa geschaffen hatte, zwangen den „Rest“, der sich „Deutschösterreich“ nannte, zum Aufbau neuer staatlicher Fundamente. Der breit angestrebte „Anschluss“ an Deutschland, das inzwischen die demokratische Weimarer Republik geworden war, war illusorisch, denn eine Zustimmung der Siegermächte zu einem territorialen Zuwachs Deutschlands war ausgeschlossen. Der Friedensvertrag der Sieger mit Deutschland, unterzeichnet in Versailles am 28. Juni 1919, untersagte diesen Anschluss ausdrücklich, und auch der Friedensvertrag mit Österreich, unterzeichnet am 2. September 1919 in Saint-Germain, wiederholte das Verbot. Zudem wurde die Führung des Namens Deutsch-Österreich untersagt.

Man musste also den Versuch unternehmen, einen politischen Neuanfang zu wagen. Die Provisorische Nationalversammlung, die am 21. Oktober 1918, zwei Wochen vor Kriegsende, zusammengetreten war und sich aus den deutschsprachigen Abgeordneten des alten Reichsrats zusammensetzte, wählte Karl Renner zum Staatskanzler. Und mit dem Verzicht von Kaiser Karl auf einen Anteil an den Staatsgeschäften konnte man darangehen, erste Wahlen zu organisieren.

Aber noch war selbst die Staatsform als demokratische Republik nicht gesichert. Im benachbarten Ungarn hatte eine Räteregierung die Macht übernommen, in München hatten Arbeiter- und Soldatenräte das Sagen. In Österreich selbst dominierte die Rätebewegung auf den Straßen, vor allem in der Hauptstadt Wien. Es gelang der Sozialdemokratie, die Räte einerseits zu domestizieren, sie andererseits aber als politisches Druckmittel zu instrumentalisieren, um ein eindrucksvolles Sozialsystem im ausgehungerten und ökonomisch kaum lebensfähigen Staat zu etablieren.

Die ersten Wahlen im jungen Staat – Wahlen, an denen erstmals auch die Frauen gleichberechtigt teilnehmen durften – fanden am 16. Februar 1919 statt, also lange vor der definitiven Festlegung der Grenzen Österreichs. So gab es noch kein „Burgenland“, da diese Gebiete damals noch zu Ungarn gehörten. Sudetendeutsche und Südtiroler waren von den Siegermächten von der Wahl ausgeschlossen worden.

Die Sozialdemokratie behauptete mit dem Wahlresultat ihre machtpolitisch 1918 erworbene Vorherrschaft. Sie errang 72 Mandate, um drei mehr als das Bündnis aus den christlich-sozialen Parteien. Dritte Kraft wurde das Deutschnationale Bündnis mit 26 Sitzen. Eine Große Koalition aus Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen war die logische politische Konsequenz. Die bisherige Regierung Renner I demissionierte, es folgte eine Regierung Renner II. Diese musste den Staatsvertrag von Saint-Germain durch das Parlament bringen, die Grenzfrage zu Ungarn zu lösen beginnen, in Kärnten den Abwehrkampf politisch begleiten und die Volksabstimmung vorbereiten, den Verlust Südtirols akzeptieren und den Sozialstaat aufbauen. Dabei war man noch immer auf Lebensmittellieferungen aus den benachbarten Siegerstaaten angewiesen. Es galt auch, die sogenannte „Habsburgerfrage“ zu lösen. Am 3. April 1919 wurde das Habsburgergesetz beschlossen, mit dem das Vermögen des Hauses Habsburg in den Besitz der Republik Österreich überging. Eine Woche später, am 10. April 1919, folgte das Gesetz über die Aufhebung des Adels. Seither ist es in Österreich untersagt, das Adelszeichen „von“ im Namen zu führen. Vielen Christlich-Sozialen gingen diese beiden Gesetze, die die Sozialdemokratie einbrachte, deutlich zu weit.

Die Interessensgegensätze zwischen den Regierungsparteien machten eine Zusammenarbeit für beide Seiten immer unerquicklicher. Im Sommer 1920 zerbrach die Gemeinsamkeit, aber man einigte sich am 6. Juli 1920 noch auf ein Gesetz über die Verkürzung der Legislaturperiode für die Konstituierende Nationalversammlung. Dieses Gesetz sah ein Auslaufen der Legislaturperiode am 31. Oktober 1920 vor. Danach sollte gewählt werden. Der Wahlkampf startete daher umgehend.

Dennoch, es war die Aufgabe der Konstituierenden Nationalversammlung, eine Konstitution, also eine Verfassung, auszuarbeiten. Sie nahm diese Aufgabe ernst, und so gab es für einige Monate die paradoxe Situation, dass man gegeneinander Wahlkampf führte, im Verfassungsausschuss des Parlaments aber mit aller Kraft zusammenarbeitete, um eine Verfassung zustande zu bringen, die im Parlament noch vor den Wahlen mehrheitsfähig sein musste. Hans Kelsen, damals ein junger noch nicht vierzigjähriger Ordinarius an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Wien, stellte seine Expertise zur Verfügung und formulierte die entscheidenden Kompromisse. Die Sozialdemokraten hatten zentralistische Vorstellungen für ein künftiges Österreich, die Christlich-Sozialen hingegen föderalistische. Das war nicht leicht unter einen Hut zu bringen.

Die beiden führenden Regierungsmitglieder, Karl Renner von den Sozialdemokraten und Michael Mayr von den Christlich-Sozialen (die beiden wechselten einander auch im Amt des Staatskanzlers im Juli 1920 ab), verhandelten mit Hans Kelsen, und im Ausschuss rangen Otto Bauer und Ignaz Seipel, die beiden intellektuellen Köpfe der großen Parteien, um jede Formulierung.

Es ist erstaunlich, wie kompromissfähig eine politisch bereits zerbrochene Regierung noch sein konnte und wie zwei gegeneinander wahlkämpfende Parteien unter der Anleitung einer wissenschaftlichen Persönlichkeit noch zu gemeinsamen Beschlüssen kommen konnten. Am 1. Oktober 1920 wurde die Verfassung im Parlament beschlossen, am 10. November 1920 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Sie enthielt noch Teile aus dem Staatsgrundgesetz von 1867, wie etwa die Grundrechte. Dennoch sollte das so rasch ausgehandelte Verfassungswerk bis heute, wenn auch in der Fassung von 1929, Bestand haben. Sie ist damit eine der ältesten Verfassungen Europas, die noch in Kraft sind.

Helmut Konrad war Professor für Zeitgeschichte und Rektor der Universität Graz.