Der Schock in Plauen sitzt tief. Die Bilder vom Aufmarsch der rechtsextremen Partei „Der Dritte Weg“ am 1. Mai gingen um die Welt. Selbst die „New York Times“ widmete sich dem martialischen Aufzug durch die sächsische Stadt. Mit einheitlichen Shirts, Bengalos, Trommeln, Fahnen und Plakaten mit eindeutigem Bezug zum Nationalsozialismus waren 500 Sympathisanten um den kleinen Wartburgplatz gezogen und dabei provokant über eine Europafahne marschiert.

Es wurde auch deshalb ein Thema, weil die Partei am 26. Mai auf dem Stimmzettel steht. Wieder einmal bekommt Sachsen den rechtsradikalen Stempel aufgedrückt und stellt sich die Frage: Warum immer Sachsen? Erwacht hier besonders markant ein neuer nationaler Dämon in Deutschland?

Ulrike Liebscher sitzt im alten Malzhaus in der liebevoll hergerichteten Altstadt von Plauen. Sie ist die Koordinatorin eines runden Tisches für Demokratie, Toleranz und Zivilcourage im Vogtland, in dem sich neben Vertreter von Kirchen und Organisationen alle Parteien außer der rechtsradikalen NPD versammelt haben. Man habe den Protest nicht der linksextremen Ecke überlassen wollen, erzählt sie. „Pfarrer Hans-Jörg Rummel sagt immer: ,Damit meine Christenmenschen keine Angst haben müssen, zum Protest zu gehen‘.“

Die Suche nach Konsens

Es gehe um einen breiten Konsens in der Gesellschaft. Der war in den Jahren zuvor nicht zu spüren, stellt Liebscher fest. Die Aufmärsche gebe es schon lange, doch ohne Aufmerksamkeit und ohne große Gegenwehr. Es ist eine Zustandsbeschreibung, die man in diesen Tagen überall in Sachsen hört. Liebscher kam 2005 aus dem westdeutschen Baden-Württemberg nach Ostdeutschland und habe sich schon im damaligen Bundestagswahlkampf über die vielen Plakate der NPD gewundert. „Ich habe mich gefragt: Wo sind denn die anderen Parteien?“, erzählt Liebscher.

Die demokratischen Gegenkräfte hätten sich in ihrer Konkurrenz geschwächt und dies hätten die Neonazis genutzt. „Sie treten als Gruppe auf, die sich um die Verlierer kümmert, sie veranstalten Suppenküchen und Kleidermärkte für sozial schwache Familien, bieten Kinderbetreuung und Kampfsport zur Selbstverteidigung für Kinder.“ Natürlich nur für Deutsche.

Rechtsextremes Netzwerk

Der Journalist Peter Heyden untermauert diese Eindrücke. Er recherchiert seit Jahren zu der Partei, die er ein „nationalsozialistisches Netzwerk“ mit internationaler Verknüpfung nennt. Er operiert und schreibt unter mehreren Pseudonymen. Seinen wahren Namen kenne niemand, sagt Heyden, während er präsentiert, was er herausgefunden und akribisch analysiert hat.

„Plauen ist seit 1990 ein Drehkreuz für neonazistische Bewegungen, weil es günstig zu Tschechien und Bayern liegt“, sagt Heyden. Außerdem habe man optimale Bedingungen vorgefunden. Dreimal habe es schon diese Märsche in Plauen, in anderen ostdeutschen Städten aber jeweils nur einmal gegeben. „Der Bürgermeister in Plauen regiert seit 2000 und agiert nach dem Motto: Lasst die doch und ignoriert sie einfach.“ Das hätten die Neonazis natürlich mitbekommen.

Überraschung im Rathaus

Im Rathaus reagiert man überrascht über die weltweite Reaktion, bestätigt eine Mitarbeiterin der Stadt. Sie kennt die Politik im Vogtland seit drei Jahrzehnten aus nächster Nähe. Ihren Namen nennen möchte sie nicht. Sie ist damit nicht allein in Sachsen. Viele Menschen der Mitte wollen über die Stärke der Rechtsextremen und Populisten nur im Schutz der Anonymität reden. „Es gab schon immer eine kritische Einstellung gegenüber der Staatsgewalt“, erzählt die Frau. Wenn nun auch noch in den Medien das stehe, was die Regierung sagt, dann fühlen sich viele an die DDR erinnert, wo das auch so war. Sie verweist auf die Rolle Sachsens in der friedlichen Revolution 1989, die hier ihre Keimzelle hatte. „Später sind dann reihenweise Lebensentwürfe zerfallen.“

Karl Marx in Chemnitz
Karl Marx in Chemnitz © Hasewend

Es entstand Unzufriedenheit über nichterfüllte Erwartungen. „Bei Pegida in Dresden liefen zunächst nicht nur Rechtsgerichtete mit, sondern auch Klein- und Mittelständler, die ihre Grenzen spürten.“ Ein Hotelier sagte ihr, man fühle sich ständig kriminalisiert durch den Staat. So habe man sich die Freiheit im Westen nicht vorgestellt. Hinzu kamen dann Fehler in der sächsischen Politik wie die Landkreisreform. Plauen habe nach 100 Jahren den Status als kreisfreie Stadt verloren. Das nage am Selbstbewusstsein und habe nur das Chaos der Zuständigkeit verstärkt wie bei der Frage eines Demonstrationsverbots oder in der Beauftragung der Abfallentsorgung, was zu tagelangen Müllbergen führte. Dieses Vakuum mache die Bürger wütend. Sie habe zudem den Eindruck, dass in Sachsen das Demokratieverständnis 30 Jahre nach der Einheit noch immer unterentwickelt sei. Es gebe ein Informationsdefizit, auch werde politische Diskussion als Streit empfunden. Streit aber mag man im Osten nicht.

Gute Stimmung bei den AfD-Anhängern

In Freital steht auf der Bühne einer, der ein Gespür für dieses Gefühl hat. Der Rechtsanwalt Maximilian Krah ist 42 Jahre alt, kandidiert bei der Europawahl auf Listenplatz drei für die Alternative für Deutschland hinter Jörg Meuthen und Guido Reil und dürfte aller Voraussicht nach eine zentrale Rolle in Brüssel spielen. Er ist 2016 nach 25 Jahren aus der CDU ausgetreten, aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel. Doch Krah poltert nicht wild, er weckt an diesem Abend überwiegend mit moderatem Ton Emotionen. „Sachsen ist wie das Auenland in ,Herr der Ringe‘“, fängt Krah an. Dort sei es nicht schlecht. Es gebe gutes Essen und die Leute seien gemütlich. „Wenn es aber Krieg gibt, dann sind es nicht die tollen Feen, die kämpfen, sondern die dicklichen Hobbits.“ Der Sachse wolle in Ruhe leben, aber diese Ruhe wolle man auch behalten. „Der Sachse ist schwer zur Weißglut zu bringen, aber wenn es passiert, dann brennt die Hütte.“ Krah baut auf ein Sachsen-Gefühl, das gepflegt wird.

Und dann erzählt er, was aus seiner Sicht der AfD in Sachsen einen derartigen Zulauf bringt, dass man bei der EU-Wahl knapp hinter der CDU als zweitstärkste Partei ins Ziel kommen dürfte und für die Landtagswahl im September sogar stärkste Kraft werden könnte. „1989 war getrieben vom alten Traum nach nationalstaatlicher Normalität. Davon hat sich der Westen danach distanziert“, sagt Krah. Spätestens die Grenzöffnung 2015 habe gezeigt, dass der Westen mit dem postnationalen Experiment gescheitert sei. „Das trägt uns.“

Das Wort "Umvolkung"

Dass Krah dennoch nicht zimperlich ist, zeigt er in der Mitte seiner Rede, wenn es um die Frage geht, wer ins Land darf und wer nicht. „Wenn in Tschechien morgen eine Naturkatastrophe passiert, gibt es kein Bundesland, das seine Turnhallen so großzügig öffnet wie Sachsen.“ Doch das sei eben etwas anderes als 2015. „Sie werden reingeholt, damit ihr nicht mehr die Mehrheit seid“, ruft er in den Saal. „Was wir nicht wollen. ist eine Umvolkung.“ Ob er das jetzt sagen dürfe, fragt er dann rhetorisch und verwendet das Wort gleich noch einmal. Auch der Verfassungsschutz erwähnt den sächsischen Landesvorsitzenden in einem Gutachten über die AfD.

Wahlkampf in Dresden
Wahlkampf in Dresden © Hasewend

Die Stigmatisierung nutze der AfD, sagt ein hochrangiges Parteimitglied im vertraulichen Gespräch. Die meisten Sachsen würden gerne an die Hand genommen werden. Die anderen Parteien hätten die Entwicklung verschlafen. Man habe es satt, nur als „Pack“ bezeichnet zu werden, auf Sorgen aber keine Antworten zu bekommen.

Der Sachsen-Erklärer und Vermittler

Für Frank Richter ist es wesentlich, dass man zwischen Wählern rechter Parteien und den Funktionsträgern unterscheide. Lange Jahre war er Direktor der Landeszentrale für politische Bildung. Er kandidiert im Herbst für die SPD. Der Theologe gilt seit den Revolutionstagen als Vermittler zwischen den Fronten. Für ihn sind die Ausschläge mit Transformationsmüdigkeit und Demografie zu erklären. „Es gehen seit Jahren die Jungen, Mobilen, Intelligenteren. Die fehlen hier und lassen andere zurück.“

Werner Patzelt sitzt auf seinem Sofa in Dresden. Der Politikprofessor ist seit Kurzem im Ruhestand. Er berät aktuell die sächsische CDU, deren Mitglied er ist. Die Christdemokraten erfreuten sich in Dresden zwei Jahrzehnte lang an einer absoluten Mehrheit, leiden aber nun am Schrumpfungsprozess. Patzelt attestiert ihnen „christdemokratische Selbstgefälligkeit“. Die Stärke der AfD sei vor allem die Schwäche der CDU.

Neben der landespolitischen Komponente ortet er einen Einfluss des Bundes. Euro-Rettung und „frivole Migrationspolitik“ hätten die AfD mit „Initialerfolgen“ ausgestattet. Die Pegida in Dresden habe die „sächsischen Rechtspopulisten zu besonders selbstbewussten und selbstgefälligen Akteuren in der deutschen Szenerie gemacht“, sagt Patzelt. Es sei richtig, dass in der AfD gar nicht wenige seien, die wie die meisten Deutschen nicht wüssten, wie ein freiheitlicher Staat funktioniert. Und es nicht ertragen wollten, dass jene, die etwas anderes meinten als man selbst, in der Mehrheit seien. „Aber das zentrale Motiv der Wählerschaft ist nicht, dass man die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen oder ausländisch Aussehende in KZs einsperren will.“

Patzelt macht eine markante Pause. „Das zentrale Motiv ist die Bestrafung der CDU! Denn es ist ihr nicht zu glauben, dass sie das Land auf einem guten Kurs hält“, erklärt der Professor. „Die Union hat überall dort heftig verloren, wo zuvor das Vertrauen in sie besonders stark gewesen ist.“ Das gelte für Sachsen wie für Bayern. „Alle Versuche etwas an einer Art sächsischem Nationalcharakter festzumachen, sind nichts anderes als eine Form von kulturalistischem Rassismus.“