Herr Tabellini, Europa steht vor bedeutsamen Wahlen. Manche meinen sogar, diese könnten die Rückabwicklung der EU einläuten. Teilen Sie diese Furcht?
GUIDO TABELLINI: Ich bin nicht so pessimistisch. Die nationalistischen Parteien werden zulegen. Aber an der Art und Weise, wie das politische Europa funktioniert, wird sich nicht viel ändern. Das sind globale Phänomene. Man kann sie auch außerhalb Europas beobachten, etwa in den USA. Sie haben ursächlich damit zu tun, dass sich der ökonomische Konflikt in den Staaten selbst stark wandelt.

Was meinen Sie damit?
Früher fand die Auseinandersetzung zwischen rechts und links statt, zwischen Reich und Arm, Arbeit und Kapital. Heute verlaufen die Gräben zwischen den urbanen, gebildeten Schichten, die von der Globalisierung profitieren, und ihren Verlierern, die in Branchen arbeiten, die stark unter Konkurrenz der Chinesen oder anderer Niedrigkostenländer leiden. Diese Abgehängten reagieren auf ihre schwindenden Perspektiven mit dem Ruf nach Nationalismus, nach Protektionismus in der Wirtschaft, mit der Ablehnung von Migration und der Rückbesinnung auf traditionelle Werte. Die Finanzkrise hat das verstärkt. Sie hat das Vertrauen in die europäisch gesinnten Eliten geschwächt und in den Geschädigten Feindseligkeit gegenüber Europa geweckt.

Dabei hat die EU doch viel getan, um über Umverteilung den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Das sehe ich anders. Europa hat die Umverteilung sogar erschwert, da es die Kapitalflüsse und den Steuerwettbewerb erleichtert hat. Das war ein Fehler, aber nicht in dem Sinn, dass der Binnenmarkt verfehlt ist. Von ihm haben wir alle profitiert. Der Irrtum war es, zum Wettbewerb zwischen Steuersystemen zu drängen, ohne zu bemerken, dass das es den Nationalstaaten erschweren würde, jene zu schützen, die zurückgeblieben sind. Das müsste nicht so sein. Europa könnte sehr gut ein Instrument für die Integration der Schwächsten sein.

Was müsste es dafür tun?
Es müsste in der Steuerpolitik auf die Einstimmigkeit verzichten. Dann gäbe es in Luxemburg, den Niederlanden und anderswo nicht mehr niedrigere Steuern, um das Kapital anzulocken. Mit einer Harmonisierung der Systeme fiele es leichter, das Kapital und die Reichen höher zu besteuern, um denen mehr zu geben, die wenig haben.

Die Reichen zu schröpfen wird die Probleme der Milchbauern in der Normandie nicht lösen.
Das ist richtig. Aber es könnte ihnen eine Hilfe sein, wenn man die so gewonnenen Ressourcen in Bildung investiert. Denn der Konflikt zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung wird sich verstärken. Er wird sich intensivieren, weil die Auswirkungen, die mit der Spezialisierung des Wissens verbunden sind, immer spürbarer werden. Wenn ich heute Anwalt bin, konzentriere ich mich auf einen winzigen Aspekt des Rechts. Doch um produktiv zu sein, benötige ich in meiner Kanzlei einen anderen Anwalt, der sich komplementär zu mir auf einen anderen, noch kleineren Ausschnitt spezialisiert. Das steigert die Produktivität und führt dazu, dass sich fähige Individuen zusammentun, während die weniger Produktiven unter sich bleiben. So sind überall in Europa urbane Cluster von Produktivität und Reichtum entstanden. Mailand ist so eine Stadt.


Was bedeutet die immer tiefere Kluft zwischen den urbanen Zentren und der verödenden Peripherie für ein Land wie Italien?
Sie schafft Probleme. Aber ich sehe keinen Weg, diesen Modernisierungsprozess aufzuhalten. Die Häufung von humanem Kapital in den produktiveren Zentren zu behindern, würde ein Land nur weiter zurückfallen lassen. Die Lösung kann nur sein, die auf der Strecke Gebliebenen zu stützen, indem man ihnen über Bildung die Möglichkeit zu Wachstum eröffnet. Dafür ist es wichtig, dass jene, die an der Peripherie leben, begreifen, dass mit Anstrengung auch sie und ihre Kinder die Früchte der Moderne genießen können.

Ein Schlüsselprojekt der europäischen Einigung war der Euro. Warum sehen ihn viele Europäer nicht als Erfolgsgeschichte?
Der Euro wurde vermutlich zu hastig konstruiert. Die Währungsunion ist ein politisches Projekt, aber statt uns zu einen, hat sie die Europäer gespalten, da sie die Divergenzen und das Misstrauen zwischen den Staaten hat wachsen lassen. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit dem Euro zu warten, bis man ein gewisses Niveau der politischen und steuerlichen Integration erreicht und die zu hohen Staatsschulden der südeuropäischen Länder wie Italien und Griechenland verringert hat.

Jetzt ist es zu spät dafür.
Jetzt ist es zu spät dafür. Aber würde Deutschland mehr in seine Infrastruktur investieren und offener für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung und die Fertigstellung der Bankenunion sein, dann würde das den Wettbewerbsnachteil der Länder des Südens verringern. Diese müssen ihre Hausaufgaben natürlich machen. Aber ein höheres Wachstum in Deutschland würde die Inflation in Europa antreiben. Einer der Gründe, wieso es so schwierig ist, die Staatsschulden zu beseitigen, ist, dass die Inflation so niedrig ist.

Sie behaupten, dass der Euro die kulturellen Unterschiede in Europa vertieft hat. Wie das?
Wir haben uns die Antworten angesehen, welche die Europäer auf fundamentale Fragen geben wie zum Beispiel die Rolle der Frau, die Rolle des Staates und die der Wirtschaft sowie die individuellen Werte, die sie ihren Kindern mitgeben wollen. Dabei haben wir zwei überraschende Entdeckungen gemacht. Die erste ist, dass wir Europäer einander sehr ähneln. Aber nicht, weil wir gleich sind. Wir sind im Inneren der Länder sehr verschieden. Aber die Divergenzen zwischen zwei Italienern decken sich fast mit denen zwischen einem Italiener und einem Österreicher. Und die zweite Überraschung ist, dass trotz höherer Mobilität und wirtschaftlicher Integration die kulturellen Unterschiede, so klein sie auch sein mögen, zwischen den Staaten gewachsen sind. Das nationale Zugehörigkeitsgefühl wurde in den letzten 20 Jahren immer stärker. Je weniger wir uns unterscheiden, desto mehr identifizieren wir uns mit unserem Land.

Heißt das, dass das vereinte Europa zum Scheitern verurteilt ist?
Nein, aber es legt nahe, dass ein erheblicher Teil des Misstrauens, das heute zwischen den Staaten besteht, Vorurteilen geschuldet ist und der ökonomischen Asymmetrie. Um die politische Integration zu erleichtern, wäre es daher wichtig, die Ungleichgewichte zu beseitigen und den Aufbau einer europäischen Identität zu fördern.

Wie soll das geschehen?
Wenn wir auf die Geschichte der Nationalstaaten blicken, so war das erste Werkzeug dafür die Schule. Natürlich wollen wir nicht die öffentliche europäische Schule. Aber uns hindert nichts daran, Lehrinhalte besser zu koordinieren und das Wissen zu vermitteln, dass Europa nicht nur eine Historie von Kriegen ist, sondern eine Geschichte gemeinsamer Werte und Helden, die als Europäer Großes für die Welt vollbracht haben. Leonardo, Beethoven, Mozart – jedes Land hat solche Heroen, die nicht nur Bürger ihrer Länder waren, sondern schon zu ihrer Zeit Teil einer europäischen Gemeinschaft.