Watergate ist nichts dagegen, was die EU seit gestern hat: SofaGate. Passiert war, Sie werden es vielleicht schon wo gesehen haben, Folgendes: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel waren am Dienstag nach Ankara gereist, um bei Staatschef Recep Tayyip Erdogan Möglichkeiten für eine Verbesserung der Beziehungen der EU zur Türkei auszuloten. Besonders gut lief es nicht, dafür gibt es einen Social-Media-Hit als Beleg. Beim gemeinsamen Gespräch, dem formal wichtigsten Teil des Treffens, standen für die drei Personen nur zwei Stühle bereit. Gülden immerhin, an edlem Teppich positioniert, aber einer zu wenig. Michel hechtete quasi hin, vielleicht hat er auch an die Reise nach Jerusalem gedacht, Erdogan nahm den zweiten Platz ein, von der Leyen blieb konsterniert stehen und sagte laut und deutlich: „Ähm…“



Die beiden großen Jungs blickten zu Boden. Einer etwas verlegen, der andere nicht. Die nächsten Bilder zeigen Michel und Erdogan, wie sie nebeneinander sitzen und wichtige Dinge besprechen, und die Kommissionschefin und den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu, die mit einigem Abstand jeweils auf mächtigen Sofas links und rechts davon thronen. Schaut hübsch aus und mag etwas bequemer gewesen sein, aber es war auch ein Affront. Ein ganz offensichtlich bewusst herbeigeführter Affront. Manchen, die schon länger dabei sind, fällt dazu der riesige schwarze Hund ein, den Putin einmal bei einem Treffen mit Angela Merkel reingelassen hat – er weiß, dass sie Hunde nicht mag, weil sie als Kind von einem gebissen wurde.



SofaGate war heute den ganzen Tag schon wichtiger, als alles, was bei dem Treffen sonst noch vorgekommen ist. Beim täglichen Mittagsbriefing der EU-Kommission nahm der Punkt fast eine Stunde ein. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass die oberen Brüsseler Protokollexperten in der Türkei nicht mit dabei waren – wegen Corona werden die Delegationen bei solchen Reisen sehr schlank gehalten. Der Ablauf muss also mit den Leuten der EU-Delegation in Ankara besprochen worden sein. Normalerweise ist da jede Sekunde durchgetaktet, alle Wege, wo welches Auto stehen bleibt, wer wen wann begrüßt, wo eine Wasserkaraffe steht, jedes noch so kleine Detail. Leicht möglich, dass da inzwischen der eine oder andere aus der Delegation auf einen Meter zehn zusammengestaucht ist. Chef dort ist übrigens Nikolaus Meyer-Landrut, Onkel zweiten Grades von Lena. Herr Meyer-Landrut kann jetzt möglicherweise ein Lied davon singen, wie es ist, wenn etwas passiert, was so eine Aufregung auslöst – und bei guter Planung vermeidbar gewesen wäre. Welche Person aber genau an welchem Detailvorgang beteiligt war, verriet uns die Kommission nicht, da sind sie auch diplomatisch. Es werde mit allen Beteiligten geredet, damit das nicht noch einmal passiert, hieß es und damit waren auch die Kollegen vis-a-vis gemeint, die vom Rat.

Im Rat waren sie nämlich noch mehr rat-los. Je öfter man das kurze Video mit den beiden Männern und der konsternierten Kommissionschefin anschaut, desto schlechter kommt der Ratspräsident davon. Einen Augenblick lang streckte er sogar entspannt die Beine aus auf seinem Sitz, glücklich, einen zu haben. Dann kam ihm vielleicht in den Sinn, dass das den schlechten Eindruck noch verstärken würde. Was ihm nicht in den Sinn kam: Aufstehen, den Platz der Dame anbieten (da hätte Erdogan schön geschaut), nach einem dritten Sessel fragen, sich demonstrativ ebenso aufs Sofa setzen (Platz wäre gewesen). Ausdrücklich stellte man in Brüssel heute noch einmal klar, dass formal beide EU-Präsidenten den selben Status haben und somit die exakt selbe Behandlung verdienen. Frühere Bilder von ähnlichen Treffen zeigen jeweils drei Männer (zuletzt Erdogan, Juncker, Tusk), die auf drei Sesseln nebeneinander sitzen.

In der Kommission beschreibt man diese Augenblicke, die andernorts zur augenblicklichen Selbstauflösung ganzer Protokollabteilungen führen würden, aus der Perspektive Ursula von der Leyens. Sie habe abgewogen, ob sie das Treffen abbrechen und gehen, oder die Sache trotzdem durchziehen sollte. Die Position der EU-Kommission zu vertreten sei aber wichtiger als eine Sessel-Sofa-Frage, deshalb habe sie beschlossen, sich nicht beirren zu lassen. Der Vorfall habe „ihren Blick aufs Thema geschärft“, nennt es ein Diplomat, und in der Tat zeigte sie sich bei der anschließenden Pressekonferenz unerwartet direkt. „Menschenrechte sind nicht verhandelbar“, richtete sie da ihrem boshaften Gastgeber aus, stellte die Bedeutung von Frauenrechten heraus und kritisierte neuerlich den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention.

Das hat sie nicht nur der Presse, sondern dem Vernehmen nach auch Erdogan gesagt, vom Sofa aus. Das Protokoll kam ein weiteres Mal in Bedrängnis, die Unterredung dauerte fast zwei Stunden und damit deutlich länger, als geplant. Wer weiß, vielleicht hat Erdogan in dieser Zeit auch jemand mitgeteilt, mit wem er sich gut stellen müsste, wenn er Zollerleichterungen will: das verhandelt die Kommission.