Bei ihrem wohl letzten EU-Gipfel musste die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sich mit Themen auseinandersetzen, die sie seit Jahren begleiten. Die Staats- und Regierungschefs stritten darüber, ob Zäune an den EU-Außengrenzen das richtige Mittel gegen unerwünschte Migration sind. Und im Inneren gab es mit Polen Streit um grundlegende Werte wie die Unabhängigkeit der Justiz. Merkel wird auf dem europäischen Parkett fehlen - das machten viele ihrer Kollegen deutlich.

Schallenberg: "Merkel wird Lücke hinterlassen"

Merkel sei "ein Kompass und eine Lichtgestalt unseres europäischen Projekts", sagte EU-Rats-Chef Charles Michel am Freitag. Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) nannte Merkel einen "Ruhepol innerhalb der Europäischen Union". Er erklärte: "Sie wird eine Lücke hinterlassen". Für Österreich sei wichtig zu wissen, wo Deutschland stehe. Merkel sei "zweifellos eine große Europäerin", sagte er.

Keine gemeinsame Linie in Migrationspolitik

Inhaltlich gab es auf dem Gipfel erneut reichlich Konfliktpotenzial. So zeigte sich am Freitag, dass in der EU zwar seit Jahren viel über die Asyl- und Migrationspolitik geredet wird. Eine gemeinsame Linie ist allerdings weiter nicht in Sicht.

Mit Blick auf die unerwünschte Migration über Belarus ist man sich zumindest in der Bewertung des Vorgehens von Machthaber Alexander Lukaschenko einig. "Der Europäische Rat wird keinen Versuch von Drittländern akzeptieren, Migranten für politische Zwecke zu instrumentalisieren", hieß es im Entwurf der Gipfelerklärung. "Er verurteilt die jüngsten hybriden Angriffe auf die EU-Außengrenzen und wird entsprechend reagieren." Damit dürfte vor allem der Versuch gemeint sein, die Europäische Union nicht mit Waffen anzugreifen, sondern durch eine Vielzahl an Migranten zu destabilisieren. Merkel warf Lukaschenko beim Gipfel staatlichen Menschenhandel vor.

Der belarussische Präsident hatte Ende Mai angekündigt, dass Minsk Migranten nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern werde - als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen sein Land. Seitdem mehren sich versuchte illegale Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen zu Belarus sowie an der deutsch-polnischen Grenze.

Doch wie sollte auf den "hybriden Angriff" reagiert werden? Neue Sanktionen gegen Belarus werden bereits vorbereitet. Die angrenzenden EU-Länder Litauen, Lettland und Polen haben bereits mit dem Bau von Hunderten Kilometern Zaun begonnen. Österreich forderte beim Gipfel, dass Zäune und Drohnen zum Schutz der Außengrenzen zumindest zum Teil von der EU finanziert werden sollten. Die EU-Kommission lehnt das ab. Die Diskussion zog sich am Freitag stundenlang bis in den Nachmittag.

Weitergehen wird auch der Streit über den Zustand der polnischen Justiz - zur Frustration einiger Staats- und Regierungschefs. Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel sagte etwa: Er würde sich wünschen, dass nicht bei jedem dritten Gipfel über die "elementarsten Werte" diskutiert werden müsse, "weil der eine oder andere uns das Leben nicht unmöglich, aber sehr schwer macht".

Die EU-Kommission wirft Warschau vor, die Unabhängigkeit von Richtern zu untergraben.Zuletzt drohte der Konflikt zu eskalieren. Hintergrund des aktuellen Streits ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts in Warschau, nach dem Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar sind. Diese Entscheidung wird von der EU-Kommission und etlichen anderen Staaten als höchst problematisch angesehen, weil sie der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu ignorieren.

Nur kurz angerissen wurden beim Gipfel Themen wie die Corona-Krise und die Digitalisierung. Vor allem die dramatische Corona-Lage in EU-Ländern wie Bulgarien besorgt die Staats- und Regierungschefs. In der Abschlusserklärung betonten sie, mehr gegen Impf-Skepsis tun zu wollen. Desinformationen in sozialen Netzwerken müssten bekämpft werden. Mit Blick aufs Digitale geben die Staats- und Regierungschefs einem Entwurf der Schlussfolgerung wenig neue Impulse: Man wolle sicherstellen, dass der digitale Wandel wirtschaftlichen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität stärke. Vorliegende Gesetzespakete und andere Vorhaben müssten vorangebracht und schnell umgesetzt werden.

Abgesehen von einem feierlichen Abschied war es für Merkel also viel "Business as usual". Wenn auch zum womöglich letzten Mal. "Europäischer Rat ohne Angela ist wie Rom ohne den Vatikan oder Paris ohne den Eiffelturm", sagte EU-Rats-Chef Michel. Der nächste EU-Gipfel findet am 16. und 17. Dezember statt.