Sie kämpfen unermüdlich für die Freilassung Ihrer Schwester Maria Kalesnikowa, die in Weißrussland festgenommen und inhaftiert wurde, weil sie gegen Lukaschenko auftrat. Wie geht es Ihnen selbst nach all diesen Monaten der Ungewissheit?

TATSIANA KHOMICH: Ich versuche, alles zu unternehmen, was in meiner Macht steht. Als meine Schwester voriges Jahr gekidnappt wurde, war für mich klar: Ich kann nicht einfach aufgeben, und ich kann auch nicht in mein bisheriges normales Leben zurückkehren. Also beschloss ich, für sie zu kämpfen. Nachrichten über Weißrussland sind derzeit nicht mehr so oft auf den Bildschirmen und in den Zeitungen. Ich hoffe, dass Marias Leben besser geschützt ist, wenn ich starke Medienpräsenz für sie erkämpfe.

Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen? Wie können Sie mit ihr kommunizieren?

Das ist schon sehr lange her, dass ich sie gesehen habe. Im Gefängnis darf ich sie nicht besuchen. Mein Vater wurde zwei Mal zu ihr gelassen, jeweils für eine Stunde, hinter einer Glasscheibe. In den Arm nehmen konnte er sie nicht. Einzig ihre Anwälte dürfen öfter zu ihr - und über die läuft dann die Kommunikation. Ich schreibe ihr zwei Mal pro Woche einen Brief - doch ich habe schon seit Monaten keine Antwort von Maria erhalten - obwohl wir wissen, dass auch sie uns Briefe schreibt. Wir wissen auch, dass sie fast jeden Tag an unseren Vater schreibt - doch er erhält nur einige wenige Briefe davon. Wir dürfen nicht mit ihr telefonieren oder ihr Emails schreiben. Das ist sehr schmerzhaft.

Wie muss man sich die Haftbedingungen vorstellen?

Marias Anwälte dürfen nicht zu ihr in die Zelle, das heißt sie sehen nicht wirklich, unter welchen Bedingungen sie jetzt lebt. Aber wir wissen, dass sie schon seit einem halben Jahr in einer Isolationszelle ist, die insgesamt ca. zehn Quadratmeter umfasst; darin gibt es Betten, ein Waschbecken und ein WC; es gibt ein kleines Fenster, durch das sie den Himmel sehen kann. Sie kann im Gefängnishof jeden Tag ein bis zwei Stunden herumgehen, je nach Wetterlage; dieser Hof ist auch nur etwa zehn Quadratmeter groß. Wir wissen, dass sie dort herumläuft und versucht, sich zu bewegen. Sie darf Bücher lesen, und es gibt auch einen Fernseher - allerdings laufen dort nur die Programme der Staatssender, d.h. sie darf sich die Staatspropaganda Lukaschenkos ansehen.

Maria ist leidenschaftliche Musikerin - darf sie in der Zelle auf ihrer Flöte spielen?

Nein. Ich habe versucht, ihr die Flöte ins Gefängnis zu bringen, aber das wurde nicht erlaubt. Ich weiß, dass dies für sie einer der schwierigsten Aspekte ihrer Haft ist.

Wie erlebe Sie Marias Briefe?

Nachdem ich ihre Briefe offenbar nicht mehr erhalte, bin ich sehr froh, dass ich zumindest durch andere - meinen Vater und Freunde von uns, die Briefe erhalten - Lebenszeichen von ihr bekomme. Was alle sagen: Maria ist weiterhin zuversichtlich und überzeugt, dass am Ende alles gut ausgehen wird. Obwohl sie die ist, die seit mehr als einem Jahr in Haft ist, versucht sie allen Mut zuzusprechen und uns alle zu unterstützen. Sie hat ihren Kampfgeist bewahrt und inspiriert die Menschen, auch, wenn das Regime sie eingesperrt hat. "Gebt nicht auf, gebt nicht auf!", das ist ihre zentrale Botschaft.

Woher kommt dieser Kampfgeist, der Maria und Sie auszeichnet?

Wir sind in einer sehr demokratisch ausgerichteten Familie aufgewachsen. Unsere Mutter hat alles dafür getan, damit wir stark und unabhängig werden. Sie wollte deshalb auch, dass wir eine gute Ausbildung erhalten. Dazu kam die ganze politische Zuspitzung seit Mai 2020, als sich Maria dem Team des Oppositionskandidaten Viktor Babariko als Koordinatorin anschloss und ich bei ihnen als Medienmanagerin dazustieß: Wir sahen, wie die Bevölkerung die Opposition unterstützte, wie in wenigen Wochen immer mehr Menschen aus dem ganzen Land zusammenkamen, um einen demokratischen Wechsel zu fordern. Dieses gemeinsame Anliegen und der Zusammenhalt haben uns weiter gestärkt. Jetzt, wo Maria im Gefängnis steckt, erhält sie weiterhin enormen Rückhalt aus der Bevölkerung. Obwohl die Situation in Weißrussland derzeit immer schlimmer wird, hilft uns das dennoch, weiterzumachen. Wir können nicht einfach aufgeben. 

Als Ihre Schwester im September 2020 zwangsweise ins Exil gedrängt werden sollte, hat sie vor dem Grenzübergang ihren Pass zerrissen und sich geweigert, zu gehen.

Wenn Maria von einer Sache überzeugt ist, wird sie um jeden Preis dafür kämpfen. Deshalb hat mich ihr Verhalten nicht überrascht. Der Lukaschenko-Staat wirft Maria staatsgefährdendes Verhalten vor - dabei ist er es, der die Wahl gestohlen hat und die Macht zu Unrecht für sich reklamiert. Seine Einsatzkräfte setzen massive Gewalt gegen die Bevölkerung ein, während die Protestbewegung friedlich demonstriert hat. Zugleich werfen sie Maria und anderen politischen Häftlingen Verbrechen vor, die diese nie begangen haben.

Dieser Kampf für Demokratie ist letztlich aber lebensgefährend. Die OSZE hat zahlreiche Fälle von Folterungen und Gewalt gegen Demostranten und Häftlinge belegt.

Das stimmt. Zugleich sind derzeit hunderte Menschen in Haft, und die Situation wird immer schlimmer. Es ist unmöglich für mich, in mein früheres Leben zurückzukehren. Ich bin jetzt im Ausland, für mich ist es hier möglich, öffentlich für Maria und die vielen anderen einzutreten. In Weißrussland ist das nicht mehr möglich. Man würde sofort festgenommen. Schon allein dafür, die rot-weißen Farben der Opposition zu tragen, ist streng verboten und wird mit Haft bestraft. Auch für politische Kommentare in den Sozialen Medien wird man eingesperrt.

Worauf kommt es jetzt an?

Diese politische Krise dauert schon mehr als ein Jahr lang an - und das könnte noch viele Jahre weitergehen. Die Gerichte verurteilten die Oppositionellen zu langen Haftstrafen - Maria bekam elf Jahre, Barbariko 14 Jahre. Auch viele andere Menschen kommen auf lange Zeit nicht mehr frei, wenn sich nichts ändert. In der Zwischenzeit ist es für sie äußerst wichtig, zu wissen, dass wir sie dort im Gefängnis nicht einfach vergessen. Das gilt auch für internationale Gemeinschaft: Es ist wichtig, dass man auch außerhalb Weißrusslands immer wieder Solidarität mit den Gefangenen ausdrückt. Das sind Menschen aus allen Bevökerungsschichten - Taxi-Fahrer, IT-Spezialisten, Eltern, Ärzte, Lehrerinnen. Das Regime behauptet, das seien alles Extremisten - aber das stimmt natürlich nicht.

Sind Berichte korrekt, wonach Maria demnächst in Lagerhaft gebracht wird?

Das stimmt. Laut dem Gerichtsurteil muss sie in die Strafkolonie in Gomel. Im Moment ist sie noch in Minsk, weil ihre Anwälte Berufung eingelegt haben. Niemand erwartet, dass das Urteil aufgehoben wird. Ich habe mit Angehörigen von Häftlingen Kontakt aufgenommen, die bereits dort sind, um mehr zu erfahren. Üblicherweise wird in den Strafkolonien Arbeit verrichtet - in Gomel meistens Näharbeiten, etwa Ausrüstung für Militärangehörige. Gearbeitet wird an sechs Tagen pro Woche. Allerdings müssen die Häftlinge demnach an ihrem freien Tag oft landwirtschaftliche Arbeit verrichten. Aber zumindest stecken Häftling dort nicht in Isolation, auf wenigen Quadratmetern. Man sich nicht unbedingt mit den anderen frei unterhalten, aber es gibt zumindest Menschen, die man sieht.

Wie sind derzeit die Lebensbedingungen in Weißrussland?

Die Menschen in Weißrussland leben seit vielen Monaten in permanenter Angst, dass Polizisten bei ihnen anläuten - oder die Wohnungstür aufbrechen -, um jemanden festzunehmen. 200 NGO-Organisationen wurden geschlossen, ihre Repräsentanten als Extremisten bezeichnet. Das Regime versucht absolut jeden Widerstand zu brechen. Viele Menschen löschen abends vor dem Schlafengehen ihre Text-Nachrichten, weil man nicht weiß, ob man am nächsten Tag abgeholt wird und einem kritische Anmerkungen zum Verhängnis werden. Auch sollte man alle Fotos löschen, die man hat, auf denen man Kleidungsstücke trägt, die weiß-rot sind - weil einem das sofort als Unterstützung der Opposition ausgelegt werden kann. Wenn man auf die Straße geht, muss man damit rechnen, dass man von der Polizei aufgehalten werden kann und die Handyfotos kontrolliert werden. Ich glaube, man kann sich in westlichen Ländern das derzeitige Ausmaß der Repressionswelle in Weißrussland, die alle Lebensbereiche umfasst, gar nicht vorstellen.

Offenbar haben Sie, Ihre Schwester und viele andere dennoch nicht vor, ihre Träume von einem anderen Weißrussland aufzugeben.

Was wir uns wünschen, ist im Grunde ganz einfach. Wir wollen, dass die Rechte der Bürger anerkannt werden: Dass man wählen kann, wen man wählen möchte - und dass das Wahlergebnis respektiert wird. Dass man anerkennt, dass viele Bürger etwas Positives für Weißrussland wollen. Dass die Menschenwürde geachtet wird. Dass die Menschen frei sprechen können. Dass man aussprechen kann, was man denkt, ohne deswegen das Land verlassen zu müssen. Dass man für Wahlen kandidieren kann, ohne fürchten zu müssen, deswegen eingesperrt zu werden. Und ich wünsche mir, dass all Menschen, die ins Ausland gedrängt wurden oder flüchten mussten, zurückkommen können und trotzdem in Weißrussland sicher sind. Die derzeitige Führung hat nicht verstanden, dass ihre Zeit, nach 26 Jahren an der Macht, abgelaufen ist.