Michael Fleischhacker: Ich weiß nicht genau, warum uns der verehrte Chefredakteur mit großer Regelmäßigkeit Liebesbekenntnisse abringen will. Ich wäre vielleicht sogar bereit dazu, aber leider geht es immer um Staaten statt um Menschen. Es ist nicht lange her, da mühten wir uns mit den vaterländischen Liebesansprüchen ab, und jetzt eben Amerika. Amerika! Ob man das Land „jetzt wieder lieben“ könne, fragt man uns, und ich muss sagen, dass ich fast ein bisschen Respekt habe vor dem geronnenen Unverständnis der Welt gegenüber, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Crazy Donald im Weißen Haus herumrumpelstilzt, soll man Amerika hassen, wenn Sleepy Joe dort dahindämmert, kann man es wieder lieben? Echt jetzt?

Armin Thurnher: Na gut, ich habe gerade noch bemerkt, dass meine „Landliebe“-Sahnepuddings mit Ablaufdatum 21. 12. von der Ages zurückgerufen wurden, insofern gehöre auch ich zu den Skeptikern der Landliebe, wiewohl ich normalerweise deren Sahnepuddings mit heißem Gusto verzehre und das auch weiterhin zu tun gedenke. Natürlich wissen wir, was der Chefredakteur mit seiner Frage meint. Amerika musste man aus vielen Gründen lieben, da konnte sich jeder was herauspicken. Der amerikanische Traum Nummer eins – jeder kann alles werden, sogar Präsident, falls er in den USA geboren ist – hat sich allerdings kürzlich als
etwas nervig herausgestellt. Aber es gibt noch viele andere amerikanische Träume, denen wir, jeder für sich, anhängen.

Fleischhacker: Naturgemäß gibt es so viele amerikanische Träume, wie es Träumer gibt. Aber in der Frage steckt nun einmal eines der ganz großen Missverständnisse, fast möchte ich sagen: die Generalkrankheit unserer Zeit, nämlich die übergroße Bereitschaft, einen genauen Blick an den Dingen vorbei zu riskieren. Der Begriff vom amerikanischen Traum geht denselben Weg steil bergabwärts wie die meisten anderen Begriffe auch. Leider hat man die radikale Arbeitszeitverkürzung zuallererst auf die Arbeit am Begriff angewendet. Populismus ist heute der Begriff für alles geworden, was der Bobo nicht so wirklich lässig findet, und auf ungefähr diese Weise geht man inzwischen auch mit den Vereinigten Staaten um: Unter Trump waren es die Drecksstaaten, aber jetzt, da Biden – Biden! – Präsident wird, können wir sie ja einmal wieder lieben, waren eh schon lange nicht mehr in New York.

Thurnher: Dafür sind ja wir beide da, den Traum von der Wirklichkeit zu scheiden. Aber die Realität sieht nun in einer Facette so aus, dass wir Europäer als Teil des Westens uns stets darauf verlassen haben, dass die USA die liberale Demokratie mit der Waffe in der Hand verteidigen. Natürlich haben die USA dabei und damit – vielleicht mit Ausnahme F. D. Roosevelts – immer zuerst ihre wirtschaftlichen Interessen verteidigt, aber unter Trump hat sich erstens die Ideologie geändert und zweitens verflog die Illusion, dass die Demokratie in den USA selbst der Felsen ist, auf dem auch wir Europäer gebaut sind und auf den wir bauen können. Über Biden reden wir dann noch.

Fleischhacker: Mir scheint, dass Ihre Generation und Ihre Weltanschauungsblase das nicht immer so gesehen haben, lieber Thurnher. Was wäre passiert, wenn Sie im Gründungsjahr des „Falter“ geschrieben hätten, dass Sie sich darauf verlassen, dass die USA die liberale Demokratie mit der Waffe in der Hand verteidigen? Genau das ist es ja, was mich an dieser Debatte anödet: Herr Obama bekommt den Friedensnobelpreis verliehen, und er verteidigt die liberale Demokratie mit dem Drohnen-Joystick in der Hand. Wenn „Dabbelju“ Bush dasselbe macht, reden alle über den amerikanischen Imperialismus im Interesse der Ölmilliardäre. Was die amerikanische Demokratie angeht: Ich glaube, dass deren Probleme mit Donald Trump relativ wenig zu tun haben. Wenn ich Ezra Kleins „Why We’re Polarized“ richtig verstehe, ist es dem unsrigen nicht einmal so unähnlich: Wir haben ein Stadt-Land-Problem, das in Richtung Unlösbarkeit marschiert. In den USA kommt dazu, dass das Wahlsystem die ländlichen Gebiete überproportional bevorzugt, und deshalb ist der Aufstand derer, die jahrzehntelang von der mildlinken, städtischen Kultur- und Medienschickeria herabgewürdigt wurden, dort erfolgreicher als hierzulande.

Thurnher: Ich glaube, dafür kann man auch gut das Wort Klasse reaktivieren. In den USA ist es spätestens seit Reagan gelungen (schon vor Trump), die Verteilung des Reichtums neu zu organisieren. Aber erst nach der Jahrtausendwende hat sich das im neuen digitalen Finanz- und Überwachungskapitalismus so bemerkbar gemacht, dass Lebensstandard, ja Lebensdauer der Arbeiterklasse nicht mehr steigen, sondern sinken. Was Sie hier – und das darf ausnahmsweise ich einmal einwerfen – zu einer Frage von Moral und Herabwürdigung erklären, ist leider eine Frage von Deklassierung und fehlender sozialstaatlicher Abmilderung dieses Vorgangs.

Fleischhacker: Ja, der Klassenkampf. Ich habe Respekt vor den vielen Gerechtigkeitstheoretikern der strengen Klassendenkungsart, aber das mit der Neuorganisation der Reichtumsverteilung unter Reagan müssen Sie mir noch genauer erklären. Ich habe aus der Wirtschaftsgeschichte nicht in Erinnerung, dass es für die Werktätigen so großartig lief, bevor Reagan Präsident wurde. Aber klar, wenn, was viele zu glauben scheinen, Gerechtigkeit darin besteht, dass es allen gleich scheiße geht, war früher so und so alles besser, auch in Asien und Afrika. Darin, dass wir ein Deklassierungsproblem haben, im mittleren Westen der Vereinigten Staaten – wer außer uns beiden war denn schon einmal in Iowa? –, aber auch in vielen Regionen Europas, sogar Österreichs, sind wir uns einig. Dadurch, dass sie den Deklassierten erklärt haben, dass sie auch noch zu dumm sind, zu wissen, was eigentlich ihre Interessen sind, haben die Schlaubären in New York und San Francisco den verrückten Donald ins Weiße Haus gebracht, und fast wäre es ihnen ein zweites Mal gelungen.

Thurnher: Na ja, we are running out of time, so kann ich mit einer ausführlichen Wirtschaftsgeschichte nicht dienen. Dass die Sterblichkeit bei Arbeitern nicht sinkt, sondern steigt, ebenso die Kaufkraft, ist in der Tat ein Phänomen, das es vor Reagan nicht gab. Die Attraktivität der Vereinigten Staaten bestand eben darin, dass der Wohlstand auch der arbeitenden Klassen unserem überlegen war. Man konnte es an Konsumgütern und an der Lebenserwartung ablesen. Das hat sich geändert. Außerdem hat sich der Gesamtzustand der amerikanischen Demokratie verändert, was wir nicht zuletzt daran erkennen, dass der „verrückte Donald“, wie Sie ihn nennen, mit seinen gar nicht verrückten, von Mitch McConnell geführten Republikanern ernstlich einen Putsch erwägt, indem er sich über das Ergebnis einer demokratischen Wahl hinwegsetzen will.

Fleischhacker: Ich freue mich schon auf unser Privatissimum in Wirtschaftsgeschichte, den ökonomischen Niedergang der Vereinigten Staaten seit Ronald Reagan möchte ich mir noch ganz genau ansehen. Vielleicht ist inzwischen ja auch der Putsch passiert, Biden im Gefängnis und die Demokratie in Amerika abgeschafft. Falls nicht, reden wir dann einfach über das Wetter in Des Moines, Iowa. See you there.

Thurnher: Oder auch in Cheyenne/Wyoming. Wirklich guter Rodeo dort. Die Polizei verhaftete mich beim Stoppen und schob mich dann nach
Utah ab. Das ist noch länger her als Reagan, und den kleinen Leuten ging es damals noch viel besser als heute. Ihr Spott in Gottes Ohr, aber dafür, dass demokratische Wahlen auch und gerade in den USA gelten, möchte ich sie schon noch gern mögen. Sonst können sie mich gernhaben.