Eine Fußballarena wird zum Feldlazarett. In den Innenräumen des Warschauer Nationalstadions werden in diesen Tagen 500 provisorische Klinikbetten eingerichtet. Doch das dürfte nur der Anfang sein. Denn wenn die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Polen weiter so rasant steigt wie zuletzt, dann droht schon bald der medizinische Notstand. „Der kritische Moment in dieser Pandemie kommt, wenn die Versorgung in den Krankenhäusern kollabiert“, sagt der Epidemiologe Tomasz Ozorowski und warnt: „Diesem Punkt nähern wir uns.“ Dabei war Polen dank eines schnellen Lockdowns gut durch die erste Welle gekommen und bis vor kurzem ein Solitär in Europa ohne Risikogebiete. Nun aber leuchtet die Corona-Ampel in immer mehr Regionen rot.

Rund 8000 Neuinfektionen pro Tag meldeten die Behörden zuletzt. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag landesweit bei knapp 140, in Schlesien sogar bei 230. Zum größten Problem aber droht das marode, notorisch unterfinanzierte Gesundheitssystem zu werden. Diese Angst treibt auch die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau um, die als zentrale Schwachstelle allerdings den menschlichen Faktor ausgemacht hat. Vizepremier Jacek Sasin erklärte angesichts der Schreckensmeldungen: „Wir haben genug Betten, Beatmungsgeräte und die nötigen medizinischen Mittel. Leider fehlt es bei einem Teil der Ärzteschaft am Willen, alle Pflichten zu erfüllen.“ Applaus für Corona-Helden auf den Intensivstationen? Fehlanzeige.

Sturm der Entrüstung

Der Sturm der Entrüstung über Sasins Einlassungen war heftig. Andrzej Matyja, der Chef der polnischen Ärztekammer, wandte sich in einem Brief direkt an Ministerpräsident Mateusz Morawiecki: „Das Vertrauen der Menschen in das medizinische Personal mitten in einer Pandemie zu untergraben, ist im höchsten Maße verantwortungslos.“ Viel zu untergraben gibt es da allerdings nicht mehr. Im Mai ergab eine globale Erhebung in 26 Staaten auf fünf Kontinenten, dass das Vertrauen in die Kompetenz der Ärzteschaft in Polen mit Abstand am geringsten ist. Weltweit einzigartig: In dem katholischen Land sind die Menschen davon überzeugt, dass im Krankheitsfall eher Familienmitglieder helfen können als ausgebildete Profis.

Vor diesem Hintergrund scheint die PiS die Schuld für die drohende Corona-Katastrophe vorsorglich schon einmal auf das medizinische Personal abwälzen zu wollen. „Das größte Problem ist, dass unsere Ärzte nicht in Covid-Kliniken arbeiten wollen“, zitierte die Zeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ einen namentlich nicht genannten Regierungsvertreter. Tatsächlich häuften sich zuletzt die Berichte über Beschäftigte in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern häuften, die am Rande der Erschöpfung arbeiten oder bereits jenseits der Belastungsgrenze – und sich deshalb krankmelden. „Wir können einfach nicht mehr“, zitierte die „Gazeta Wyborcza“ einen Mitarbeiter aus dem Sanitätsdienst.

Verheerende Auswirkungen

Einig sind sich fast alle Verantwortlichen darin, dass sich der Personalmangel in vielen Kliniken verheerend auswirkt. Wojciech Serednicki, einer der führenden polnischen Experten für Intensivmedizin, fasste es in diese Worte: „Leider heilt ein Beatmungsgerät nicht von selbst. Wenn niemand da ist, der kompetent damit umgehen kann, richtet das mehr Schaden an, als dass es hilft.“ Mittlerweile haben viele Kliniken damit begonnen, Ärzte ohne volle Berufszulassung im Eilverfahren intensivmedizinisch weiterzubilden. Doch Serednicki warnt, dass es „mindestens sechs Monate Schulung braucht, bis jemand ein Beatmungsgerät richtig bedienen kann“. So gesehen dürften auch die zusätzlichen 500 Lazarettbetten im Warschauer Nationalstadion nur bedingt helfen.

Eine Lösung für die akute Krise ist nicht in Sicht, weil die Probleme chronisch sind. Zu den Ursachen der Systemkrise zählt vor allem die Unterfinanzierung. Im EU-Vergleich liegt Polen bei den Gesundheitsausgaben pro Kopf auf dem fünftletzten Platz. Schlechter sind nur einige andere osteuropäische Staaten: Kroatien, Lettland, Bulgarien und Rumänien. Deutschland gibt etwa die drei- bis vierfache Summe dieser Staaten aus. Und der Geldmangel schlägt sich natürlich auch in der Bezahlung von medizinischen Fachkräften nieder. Ein Internist zum Beispiel verdient in Deutschland etwa viermal so viel Geld wie in Polen.

Naheliegende Konsequenz

Vor allem junge, gut ausgebildete Ärztinnen und Mediziner wandern oft direkt nach der Ausbildung ab. Das wiederum hat Folgen für die Versorgungsdichte. Kamen im Jahr 2017 diesseits von Oder und Neiße etwa 4,7 Medizinerinnen und Mediziner auf 1000 Einwohner, so waren es in Polen nur 2,4. Aber auch bei Pflegekräften und technischem Personal ist dieser „Abfluss von Kompetenz“ spürbar, der im Fachjargon als „Braindrain“ bezeichnet wird. All das zusammengenommen muss sich in einer Pandemiesituation dramatisch auswirken.

Nicht viel anders sieht es in Tschechien aus, das in Europa aktuell mit am stärksten von der zweiten Corona-Welle betroffen ist. Aber auch in den übrigen östlichen EU-Staaten sind die Schwierigkeiten vergleichbar mit den polnischen Problemen. Noch härter trifft es die Länder weiter östlich, insbesondere die krisengeschüttelte Ukraine. Denn von dort sind in den vergangenen Jahren ungezählte Ärztinnen und Mediziner ins benachbarte Polen abgewandert. Aber auch ukrainische oder belarussische Pflegekräfte füllen zumindest teilweise die Lücken, die der Braindrain im EU-Osten gerissen hat. Das aber ändert nichts daran, dass sich viele Menschen in Polen in Corona-Zeiten mehr denn je als Europäer zweiter Klasse fühlen.