Der Polizist, der die Leiche des Lehrers keine dreihundert Meter von seiner Schule entfernt fand, wollte seinen Augen nicht trauen. Es müsse sich um eine Puppe handeln, um eine gestellte Filmszene, berichtet der Mann. Hier der Körper. Dort, ein Stück weiter, der abgetrennte Kopf in einer Blutlache.

Was wie das Setting eines Horrorfilms aussah, ist traurige Wirklichkeit. Am Freitagnachmittag ist ein französischer Geschichts- und Geografielehrer auf dem Nachhauseweg von einem jungen Tschetschenen enthauptet worden.Der 47-jährige Lehrer hatte seinen Schülern im Unterricht für Moral- und Bürgerkunde Karikaturen von Mohamed gezeigt.

Beispiel für Meinungsfreiheit

Darunter das Cover der sogenannten „Ausgabe der Überlebenden“ der Satirezeitschrift Charlie Hebdo nach den Attentaten 2015, auf dem ein weinender Mohamed zu sehen ist. „Alles ist vergeben“, steht darüber.  Eine andere Karikatur zeigt den Propheten nackt, auf allen Vieren, mit einem gelben Stern, der den After verdeckt. Sie ist vulgär, das steht fest. Es ging in diesem Kurs um Meinungs- und Pressefreiheit, auch um die Grenzen dessen, was man darf und was nicht.

„Nach dem Mittagessen hatten wir noch Unterricht bei ihm, er hat uns verabschiedet und uns allen schöne Ferien gewünscht“, erinnert sich Elinor Do Nascimento, Schülerin der neunten Klasse. Wenige Stunden später habe sie die Fotos ihres geköpften Lehrers im Internet gesehen. Erst war das Gesicht gepixelt, später in der Nacht nicht mehr. Die 14-Jährige bereut es, diese makabren Bilder gesehen zu haben. „Ich fürchte, sie werden mich ein Leben lang verfolgen.“ Wie alle Schüler, die vor dem Schuleingang weiße Rosen und Blumen ablegen, spricht auch sie von einem „freundlichen, wohlwollenden Lehrer“, der viel gelacht, viele Witze gemacht habe. „Er hat uns immer angespornt, über uns hinauszuwachsen.“

Ruhige Kleinstadt

Das College Bois d’Aulne, eine Mittelschule in Conflans-Sainte-Honorine, einer unauffälligen Kleinstadt 30 Kilometer nordwestlich von Paris, steht am Rande von Feldern, umgeben von einem Fußballplatz, einem Stadion und gepflegten Einfamilienhäusern. „Hier gibt’s keine große Kriminalität“, versichert Laurent Brosse, Bürgermeister der 35.000-Einwohnerstadt, „höchstens mal Regelverstöße“.

„Es mag hier passiert sein, genau vor meiner Haustür, aber es hätte überall geschehen können“, sagt Janine Venouze. Die Rentnerin war bis vor wenigen Jahren selbst Rektorin einer der drei Mittelschulen von Conflans-Saint-Honorine. „Diese hier hat den allerbesten Ruf“, sagt die 70-Jährige. Sie ist erschüttert, zittert am ganzen Leib, wenn sie redet. „Wir müssen weitermachen, wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen“, so die alte Dame.

Neue Stufe des Terrors

Wie Vinouze sind viele Menschen in Conflans-Saint-Honorine fassungslos. Am Morgen erst wurden die Blutspuren auf dem Asphalt der Straße vor der Schule weggewaschen. Es ist für die meisten schwierig, das Unerhörte, Unsagbare, Unerträgliche in Worte zu fassen. Allerdings teilen alle dasselbe Gefühl, jenseits der Worte: Dass der islamistische Terrorismus mit dieser Tat eine neue Stufe erreicht hat.

Nach Journalisten, Karikaturisten, Polizisten, nach jüdischen Mitbürgern sind jetzt Lehrer die Zielscheibe des Terrors. Erst vor zwei Wochen waren zwei Menschen vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo mit einem Metzgerbeil attackiert und lebensgefährlich verletzt worden. Die Satirezeitschrift hatte pünktlich zum Beginn des Prozesses der Attentate von Jänner 2015 die Mohamed-Karikaturen erneut auf die Titelseite gebracht. „Das dafür?“, lautete der Titel.

Alte Wunden aufgerissen

Mit Prozessbeginn wurden die alte Wunde neu aufgerissen. Frankreich musste sich fragen, ob die Terroristen nicht womöglich doch gewonnen haben. Vieles spricht dafür. Die Mitarbeiter von Charlie Hebdo müssen in einem Bunker arbeiten. Zineb El Rhazoui, eine ehemalige Mitarbeiterin von Charlie Hebdo, die den Islam scharf kritisiert, bekommt täglich Morddrohungen und lebt unter Polizeischutz. Sogar eine 16-jährige Schülerin, die sich in den sozialen Netzwerken vulgär über den Propheten Mohamed ausgelassen hatte, hat ihre Schule gewechselt und muss zehn Monate nach der sogenannten „Mila-Affäre“ noch immer um ihr Leben fürchten.

Der Täter von Conflans-Sainte-Honorine, ein 18-jähriger Tschetschene, in Moskau geboren, wurden auf der Flucht vor der Polizei erschossen. Am Samstagnachmittag teilte der französische Anti-Terror-Richter Jean-François Ricard mit, dass neun Personen in Untersuchungshaft sind. Darunter Brahim C., Vater einer dreizehnjährigen Schülerin. Der ermordete Geschichtslehrer hatte ihr angeboten, den Klassenraum zu verlassen, weil die Bilder, die er zeigen wollte, sie verletzten könnten. Das Mädchen blieb. Und war schockiert. Ihr Vater erstattet Anzeige wegen Verbreitung pornografischer Bilder. Dann stellte er Mitte Oktober mehrere Videos ins Netz. Man müsse den Lehrer stoppen, die Kinder schützen. Er gibt seine Handynummer durch und fordert Gleichgesinnte auf, sich bei ihm zu melden. „Wieso dieser Hass?“, fragt Brahim C. am Ende. Man würde die Frage gern zurückgeben.