Die Epidemie war der „Anfang der Sittenlosigkeit“. So beschreibt der Feldherr und Historiker Thukydides die Konsequenzen der sogenannten Attischen Seuche, die Athen im zweiten Jahr des Peloponnesischen Krieges (431–404 vor Christus) heimsuchte und im Zeitraum von vier Jahren ein Viertel der Bevölkerung der Stadt dahinraffte. „Leichter erfrechte sich jetzt mancher zu Taten, an die er vorher nur im Geheimen gedacht hatte“, erzählte Thukydides in seinem Werk über den Weltkrieg der antiken griechischen Welt zwischen Athen und Sparta. „Weder Götterfurcht noch Menschensatzung hielt sie in Schranken“.

Imperiale Hybris

Die Epidemie, die am Höhepunkt der Macht Athens ausbrach, wurde von Thukydides als Bestrafung der Götter wegen der imperialen Hybris und gesellschaftlichen Dekadenz des Stadtstaates ausgelegt. Für einige Historiker markiert die Epidemie einen politischen und gesellschaftlichen Bruch und den Beginn des Niedergangs der klassischen Kultur Griechenlands.

Die Hauptursache für den Untergang Athens waren aber falsche strategische Entscheidungen, wie der Entschluss von Politikern zur Sizilienexpedition (415–513 vor Christus), bei der die athenische Flotte und das Heer zugrunde gingen. Schwindet die „Hard Power“ (Militär und Wirtschaft), ist es mit der „Soft Power“ (Kultur) auch bald vorbei. Das Beispiel der Attischen Seuche zeigt, dass Epidemien und Pandemien nicht alleinig für politische, kulturelle und soziale Umbrüche verantwortlich sind. Vielmehr verstärken und beschleunigen solche Massenerkrankungen bereits existierende Bruchlinien und Schwächen in einem Staat oder einem internationalen System.

In diesem Sinne wird die globale Weltordnung nach der Coronavirus-Pandemie im Groben der vor dem Ausbruch des Virus gleichen. Jedoch werden gewisse sicherheitspolitische Trends und Bruchflächen dadurch verstärkt im Vordergrund stehen. Die wichtigste Bruchstelle ist der langsame Verlust der globalen Vormachtstellung der USA, gepaart mit einer relativen Stärkung Chinas, wobei Peking aber keine Lust auf Washingtons Rolle hat, Weltpolizist zu spielen.

Langsame Machtverschiebung

Auf geopolitischer Ebene bedeutet diese langsame Machtverschiebung vor allem, dass Europa verstärkt „umkämpftes“ Gebiet zwischen den militärischen und wirtschaftlichen Großmächten USA und China sowie der nuklearen Großmacht Russland sein wird.

Die Idee des letzten Jahrzehnts eines „G2-Systems“, einer symbiotischen Weltordnung, in der die USA und China gemeinsam für Frieden und Ordnung sorgen, war schon vor der Covid-19-Pandemie passé. Der Systemwettbewerb der beiden Staaten, das Pentagon und Weiße Haus nennen es „Great Power Competition“, steht im Vordergrund. Die aggressive Politik gegen China ist indes überparteilicher Konsens in den USA und wird mit Sicherheit auch von einem demokratischen Präsidenten fortgeführt. China und Russland hingegen sehen die USA als innenpolitisch zerrissene Weltmacht, deren Schwäche, verstärkt durch die „America First“-Politik von Donald Trump, ausgenutzt werden muss.
Aus diesem Grund versuchen China und Russland gezielt, Europa und die USA auf wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Ebene voneinander abzukoppeln. Einen unerwarteten Verbündeten finden sie hier paradoxerweise im Weißen Haus: Donald Trump und Teile der Republikanischen Partei wollen nicht länger, dass die USA ihre Schutzmachtfunktion auf dem alten Kontinent ausüben.

Europäer sollen für ihre eigene Sicherheit zahlen

Die Europäer, so Trump, sollen für ihre eigene Sicherheit zahlen oder eine amerikafreundliche Handelspolitik betreiben. Seit Monaten versuchen Moskau und Peking, diesen transatlantischen Riss mit gezielten Desinformationskampagnen sowie strategischer Kommunikation zu vertiefen. Unter diese Rubrik fallen auch die medial gut inszenierten chinesischen medizinischen Corona-Hilfslieferungen am Anfang der Pandemie.

Besonders die nukleare Dimension dieses Systemwettbewerbs wird in Österreich unterschätzt. Schon vor der Covid-19-Pandemie zeichnete sich ein neues Zeitalter der strategischen Instabilität ab.
Die USA und Russland kündigten den INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme 2019. Der Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (New START) läuft 2021 aus. Ohne Chinas Beitritt wollen die USA ihn nicht neu verhandeln. Peking lehnt jedoch bis dato eine Teilnahme an Verhandlungen ab.

Durch die Budgetengpässe, verursacht durch die Pandemie, wird allen voran Russland aber wieder verstärkt auf Nuklearwaffen zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft der Streitkräfte setzen. Das wiederum wird die USA und China zur Aufrüstung treiben. Eine weitere nukleare Rüstungsspirale droht.

Verstärkt wird diese Instabilität durch den potenziellen Einsatz von strategischen Cyberkapazitäten, also virtuellen Waffensystemen, die durch Computernetzwerke nukleare Kommandozentralen und Abschussvorrichtungen sowie andere kritische Infrastruktur lahmlegen können. Das nährt die Unsicherheit unter politischen und militärischen Entscheidungsträgern in Krisensituationen.

Cyberspace

Der Cyberspace – vor allem soziale Netzwerke – wird auch von Russland und China gezielt für deren Desinformationskampagnen genutzt.
Was nun bedeutet dieser neue Systemwettbewerb konkret für Europa? Solange Europa nicht als eigenständiger, strategischer Akteur auftreten kann, muss es klare Seite bekennen. Denn sollte der Kontinent einen Mittelweg zwischen China, Russland und den USA wählen, wird es wirtschaftlich und militärisch zwischen den Machtpolen langfristig zerrieben.

Diese Wahl sollte einfach sein: Auf der einen Seite stehen Rechtsstaatlichkeit, (annähernd) freie Marktwirtschaft und Demokratie, auf der anderen Unrechtsstaatlichkeit, Protektionismus und Autoritarismus. In diesem Sinne sind Österreich und Europa besser im amerikanischen als im chinesischen oder russischen Lager aufgehoben, selbst wenn unter dem jetzigen amtierenden Präsidenten der USA die Trennlinien zwischen den Systemen teilweise zu verschwinden droht.
Das wichtigste Ziel europäischer Sicherheitspolitik sollte somit die Stärkung der wirtschaftlichen und militärischen Bindung zwischen den USA und Europa sein. Sich nicht zu entscheiden und auf seine Neutralität und Eigenständigkeit aus einer Position der Schwäche heraus zu bestehen, ist riskant, wie Thukydides lehrt.

Neben der Attischen Seuche ist der Melierdialog der vielleicht bekannteste Teil im Werk „Der Peloponnesische Krieg“. Der Dialog ist eine Ansammlung von Wechselreden zwischen Athenischen Gesandten und den Vertretern des kleinen Stadtstaates Melos 416 vor Christus. Melos, umzingelt von einer athenischen Übermacht, pocht auf seine Neutralität. Athen hingegen setzt auf das „Recht des Stärkeren“. Letztendlich wird die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. „Die Starken machen, was sie können, und die Schwachen erdulden, was sie müssen,“ rechtfertigen die Athener ihr Handeln.

Das Schicksal der Melianer im 5. Jahrhundert vor Christus ist nur schwer mit dem der Europäer im 21. Jahrhundert vergleichbar, eine Lehre lässt sich aber trotzdem daraus ziehen: Im Zeitalter des Systemwettbewerbs und des bröckelnden internationalen Rechts wird es sich mit Sicherheit für das demokratische Europa lohnen, einen starken demokratischen Verbündeten an seiner Seite zu haben.