Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz im Berliner Osten glänzt fast wie immer. „Leave no one behind“ strahlt ein Schriftzug von der Fassade des Theaters. Dort, wo sonst Aufführungen des Hauses angekündigt werden, wird nun für eine humane Flüchtlingspolitik geworben. Das Haus hat einen Ruf zu wahren. Täuschend echt hatten krude Aktivisten Adresse und Logo des Theaters gekapert und zum Anti-Corona-Protest aufgerufen.

„Hygienedemo“ heißen die wirren Kundgebungen, bei denen ein Mix aus Esoterikern, Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern, Antisemiten, Altlinken und Neurechten gegen Corona-Beschränkungen mobil machen.
„Wir sind das Volk“, steht auf dem T-Shirt eines Demonstranten. Zwischendrin meditiert ein vermeintlicher Jesus. Der ehemalige NPD-Chef Udo Voigt ist im Kreis schon aufgetaucht, ebenso Politiker der AfD. Journalisten von ZDF und ARD sind attackiert worden. Nicht nur die Politik ist alarmiert. Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts, warnt vor einem bedrohlichen Potenzial, das zu einem „wirklich ernsthaften Problem werden kann“.

Demonstranten am Samstag in Stuttgart
Demonstranten am Samstag in Stuttgart © EXPA/ Eibner-Pressefoto

Krude Theorien

„Kommunikationsstelle demokratischer Widerstand“, heißt der Verein, der in Berlin gegen Corona aufmarschiert. „Das Notstands-Regime“, heißt ein Pamphlet, das das Programm im Internet erklärt. Lesedauer: 44 Minuten. Kurzgefasst ist Corona „wahrscheinlich nicht gefährlicher als Erkältungswellen“, der „Beginn einer Zeitenwende“ und „überlagert einen epochalen Umbruch“. Deshalb muss gehandelt werden – gegen die „überalterten Eliten“. Doch nicht nur in Berlin regt sich Protest. Sachsen, Thüringen, Südwestdeutschland sind auch Zentren der Corona-Bewegung. In Stuttgart haben sich am Samstag Tausende versammelt, um gegen die Beschränkungen zu demonstrieren. Auch für die Grünen von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg ist das ein Problem. Im Landesverband gibt es eine starke Lobby von Impfgegnern, die das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper verteidigt. Anders sieht es in Sachsen aus.

Dort rufen Rechte zu Spaziergängen auf. Was harmlos aussieht, ist der Versuch, das Versammlungsverbot zu umgehen. Die Protestler, darunter Reichsbürger, mobilisieren sich über das Netz. Immer in der Nähe: die AfD. „Corona wurde geplant“, hieß es im zeitweiligen Post eines AfD-Kreisverbands.
Die Lage ist wirr. Ebenso die Vielfalt der Mutmaßungen. Für manche wie Sänger Xavier Naidoo ist Corona Teil einer Weltverschwörung. Es geht um das Stoffwechselprodukt Adenochrom, das ewige Jugend verspricht und von gefolterten Kindern stammt. Nur Donald Trump wendet sich angeblich dagegen.

Weltverschwörung

Andere sehen eine Weltverschwörung rund um die Impfförderer Melinda und Bill Gates. Einmal soll durch die Corona-Impfung ein Chip eingeschleust werden, ein andermal geht es um heimliche Sterilisierung. Und einige konservative katholische Bischöfe warnen vor einer Weltregierung. Kurzum: Ein Mix, der vor allem eines gemeinsam hat: Den Zweifel an rationaler Vernunft und moderner Wissenschaft. Deshalb machen die Corona-Kritiker gegen die liberalen Eliten mobil, die Demokratie und Freiheit der Wissenschaft verteidigen – und dem medizinischen Personal applaudieren.

„On Bullshit“ – Über Unsinn – heißt das Buch des US-Soziologen Harry G. Frankfurt. Die These: Lügner versuchen wenigstens eine allgemein anerkannte Wahrheit zu leugnen, Bullshitter verzapfen hingegen einfach nur Unfug. Gerade das macht es so schwer, sie zu widerlegen. Doch das Problem liegt tiefer. Noch ist unklar, ob die Wirtschaft wieder anspringt. Für zehn Millionen Menschen in Deutschland ist Kurzarbeit beantragt, die ökonomische Verunsicherung ist groß. Droht eine Gelbwesten-Bewegung mit Mundschutz im Land? Im ostdeutschen Gera ist voriges Wochenende eine illustre Runde aufgezogen. Thomas Kemmerich war dabei, der „einzige legitime Ministerpräsident“, wie der mit AfD-Stimmen gewählte FDP-Mann angekündigt wird.

Der Begrüßungsredner sitzt im regionalen Wirtschaftsrat der CDU. Es bestehe die Gefahr, dass Menschen radikalisiert werden, die mit rechter Ideologie bislang nichts zu tun hätten, sagt der Populismusforscher Matthias Quent von der Uni Jena.

Kemmerich lässt sich ein Amt im Bundesvorstand der FDP inzwischen ruhen. Aber die Unruhe bleibt. Nicht wenige fühlen sich an den Herbst 2015 erinnert, in dem auf das empathische Klatschen am Münchner Hauptbahnhof die Pegida-Revolte von unten folgte. Menschen, die nicht wüssten wohin mit ihrer Verunsicherung, könnten von Akteuren vereinnahmt werden, die „eine längerfristige Programmatik und Zielsetzung verfolgen“, warnt Quent. Virus-Verschwörungstheorie - darin liegt die politische Infektionsgefahr des Erregers.

Oliver Pocher mischte sich unter die Demonstranten in Berlin und wollte mit Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann diskutieren. Die Polizei brachte Pocher allerdings "zu dessen eigener Sicherheit" weg vom Gelände
Oliver Pocher mischte sich unter die Demonstranten in Berlin und wollte mit Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann diskutieren. Die Polizei brachte Pocher allerdings "zu dessen eigener Sicherheit" weg vom Gelände © AFP

Mehr zum Thema