Mit dem Alter wird man pragmatisch“, sagt Galina. „Zumindest, wenn man klug ist“, setzt sie nach. Im sechzigsten Lenz ihres Lebens steht die geborene Aserbaidschanerin auf dem Zentralmarkt in der lettischen Hauptstadt Riga. Vor 32 Jahren war sie zum Arbeiten in der Fabrik hierher nach Lettland gezogen – „das war ja alles damals Sowjetunion“.

Die Fabrik und den „Sowjetski Sojus“ gibt’s schon lange nicht mehr. Jetzt verkauft Galina mitten im Schnee orange-schwarze und grellgrüne Spitzen-Negligés aus Polyester und lacht verschmitzt unter ihrer Pelzkappe hervor. Pragmatisch ist sie beim Geldverdienen – „sonst geht sich’s für meine Familie nicht aus“, aber eigentlich hat sie mit ihrer Altersweisheit den Vornamen gemeint. Und zwar den ihrer vor zwei Monaten geborenen Enkelin. Galina hat ihre Schwiegertochter überzeugt: „Adelaide soll die Kleine heißen – das ist weder ein russischer noch ein lettischer Name – und so wird sie mit dem ganzen Gezerre hier nichts zu tun haben.“

Ein Drittel der Bevölkerung Lettlands gehört der russischen Minderheit an; hier in Riga jeder Zweite. Die meisten kamen, wie Galina, während der Besatzungszeit durch die Sowjets hierher oder stammen von Eltern ab, die damals angesiedelt wurden – verbunden mit einer gezielten Russifizierungspolitik der Baltenstaaten. An der Kassa, am Fischmarkt, auf der Universität – überall ist neben Lettisch auch Russisch zu hören. Ist die lettisch-russische Koexistenz heute ein Problem? „An sich nicht“, meint Maris, der an der Universität von Riga Englisch studiert. „Wir leben ja ganz gut zusammen. Wenn die Ukraine-Krise und der Propaganda-Krieg nicht wären.“ Als Russland die Krim besetzte und in der Ostukraine der Krieg losging, brachen auch in den Balten-Staaten – Estland, Lettland und Litauen – die alte Wunden und die Angst vor einer russischen Invasion wieder auf. Und die misstrauische Frage: „Wie hält es die russische Minderheit im Land mit Moskau?“

Die Russen im Ausland würden diskriminiert, von Faschisten bedrängt, dürften ihre Sprache nicht sprechen – Moskau müsse sie beschützen: Diese Botschaft verbreiten russische Staatsmedien seit der Ukraine-Krise gebetsmühlenartig. In der Ukraine bestand dann der „Schutz“ in einem Krieg, der dazu dient, den Einfluss des Kremls in seinem Vorhof zu bewahren und die Ukraine, als sie mit der EU ein Assoziierungsabkommen abschließen wollte, zu destabilisieren. Würde dasselbe in den Balten-Staaten geschehen – alle drei Mitglieder in EU und Nato –, würde Europa vor eine Zerreißprobe gestellt – und wohl vor einen großen Krieg.

Deportiert nach Sibirien

Die Letten sind historisch bedingt vorsichtig, wenn es um den großen Nachbarn im Osten geht. Drei Mal war Lettland im 20. Jahrhundert besetzt – zunächst marschierte die Rote Armee ein, dann die deutsche Wehrmacht und dann kamen für mehr als vier Jahrzehnte erneut die Sowjets. Die Nazis löschten die jüdische Gemeinde Rigas beinahe vollständig aus; die Sowjets deportierten Zehntausende Letten nach Sibirien. Kaum eine lettische Familie hat Vorfahren, die nicht unter den Repressionen der Besatzungszeit gelitten haben. In ihrem als „Singende Revolution“ in die Geschichtsbücher eingegangenen gewaltlosen Kampf um die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit holten sich die Letten 1991 ihre Freiheit zurück. Fünf Menschen hatten diesen Kampf mit ihrem Leben bezahlt, als am 20. Jänner 1991, unter Gorbatschow, Truppen der sowjetischen Spezialeinheit Omon das lettische Innenministerium angriffen. Doch aus der Hand gaben es die Letten nicht mehr.

Vieles, das einst sowjetisch war, ist im heutigen europäischen Lettland längst integriert in die Alltagskultur. Borschtsch, russische Suppen wie die Soljanka finden sich heute in lettischen Fast-Food-Lokalen. Die begehrten Neunaugen, ein fischähnliches Wirbeltier, das als Delikatesse einst Sowjetbonzen vorbehalten war, kann im heutigen Lettland, mehr als 25 Jahre nach dem Ende der UdSSR, von Guntris Normalverbraucher auf dem Fischmarkt in Riga erstanden werden. An den Stadträndern reihen sich schmucklose Plattenbauten und Wohnsilos, einst für Sowjetrussen errichtet, aneinander. Im Stadtzentrum leuchten die goldenen Kuppeln der prächtigen russisch-orthodoxen Christi-Geburt-Kathedrale mit den Sternen des Freiheitsdenkmals um die Wette, dem weithin sichtbaren stolzen Symbol des unabhängigen Lettlands. Die Kathedrale; 1884 noch im zaristischen Russland errichtet, war von den Sowjets 1963 geschlossen und als „Haus der Wissenschaften“ genutzt worden; sie erstrahlt heute wieder in altem Glanz.

Mit Argwohn betrachtet

Zugleich sind „die Russen“ keine homogene Gruppe – die Unterschiede reichen von sowjetnostalgisch bis proeuropäisch. Viele junge Russen sprechen fließend Lettisch; die Sowjetunion kennen sie nur vom Hörensagen. „Wir leben im Alltag vielleicht ein bisschen nebeneinander her“, sagt Maris. „Aber wir wachsen auch zusammen.“ Der Bürgermeister von Riga, Nils Usakovs, ist russischer Abstammung und mit einer ethnischen Lettin verheiratet. Und doch sind Brüche sichtbar. Usakovs, der sich mit seiner Partei „Saskanas“, zu Deutsch „Harmonie“, als sozialdemokratisch präsentiert, wird überwiegend von Russen gewählt. Seine Kooperation mit der Putin-Partei „Geeintes Russland“ wurde in Riga mit Argwohn beobachtet, nicht alle nehmen ihm das kürzlich verkündete Ende derselben ab. Zugleich will Usakovs, der kürzlich seine Kandidatur für die EU-Wahlen bekannt gab, die russischen Wähler nicht an die radikalere Konkurrenz, etwa die „Russische Union Lettlands“, verlieren. Bei den Parlamentswahlen war die Lage noch heikler. Bereits drei Mal ging Saskanas als stimmenstärkste Gruppierung aus den Wahlen hervor – und wurde von den lettisch geprägten Parteien dann doch bei der Regierungsbildung umgangen und in die Opposition gedrängt.

"Das ist ein Cordon sanitaire um die Russisch-Stämmigen, der beweist, dass sich die Letten uns ethnisch überlegen fühlen“, ärgert sich Aleksandrs Kuzmins von der „Russischen Union Lettlands“. Er ist Assistent von Miroslaws Mitrofanow, der für die lettischen Unions-Russen EU-Abgeordneter in Brüssel ist. In Riga halten manche die Gruppierung für Kreml-treu. Für den Einzug ins nationale Parlament hat es beim letzten Mal nicht gereicht. Seine Partei kämpft, wie Kuzmins sagt, für die Gleichberechtigung der Minderheiten – vor allem in der Sprachpolitik und bei der Staatsbürgerschaft würden diese diskriminiert. Man veranstaltet Demonstrationen und Protestmärsche. Im schmucklosen Parteilokal in der Rupniecibas-Straße im Zentrum Rigas kommen die Mitglieder zwei Mal pro Woche zusammen; freitags tagt hier der „Stab zur Verteidigung der russischen Schulen“. Dass sich manche in Lettland Sorgen machen wegen der Loyalität der Russen, versteht er im historischen Kontext. „Notwendig sind diese Sorgen aber nicht“, meint er.

Russland zur EU?

Seine Einstellung zur EU? In den 90er-Jahren sei die Partei gegen den Beitritt Lettlands gewesen – „weil wir dadurch unsere damals guten wirtschaftlichen Beziehungen nicht nutzten. 2003, beim Referendum, trug man den Beitritt mit. Bei der letzten Wahl habe sich im Wahlprogramm auch kein Aufruf zum Ausstieg aus der Nato befunden. „Ich bin Bürger Rigas und Europäer – und natürlich gehe ich zur Wahl.“ Wünschen würde er sich, dass auch Russland eines Tages dazugehört zur Europäischen Union.

Tatsächlich hat Lettland mit dem Streit um die Staatsbürgerschaft eine offene Flanke – die Lage der sogenannten „Nicht-Bürger“, zu denen viele ethnische Russen zählen, bleibt heikel. Wadim ist einer von ihnen. Er ist als Sohn von „Nicht-Bürgern“ in Lettland geboren – es handelt sich um Menschen, die wie Galina zwischen 1940 und 1990 ins Land kamen. Als die Letten 1991 ihre Unabhängigkeit errangen, wurde festgelegt, dass die in der Sowjetzeit Zugezogenen nicht automatisch die Staatsbürgerschaft des neuen, jungen Staates erhalten – man war sich auch damals ihrer Loyalität nicht sicher und wollte, dass die Russischsprachigen eine bewusste Wahl treffen. Sie müssen weiterhin einen Sprachtest machen, der lettischen Republik die Treue schwören und versprechen, die Unabhängigkeit Lettlands zu verteidigen.

„Das mache ich sicher nicht“, empört sich Wadim. Er lebe hier, arbeite, zahle Steuern. Er spreche auch ganz normal Lettisch, und die Hymne singe er bei jedem Eishockeymatch mit. „Ich fühle mich diesem Staat zugehörig – warum gibt es für mich Sonderbedingungen?“ Etwa zehn Prozent der Bevölkerung leben weiterhin mit Nicht-Bürger-Status – das bedeutet, dass sie vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind. Wadim interessiert sich deshalb für Politik so wenig wie möglich. Dass manche Letten die hiesigen Russen als trojanisches Pferd Putins betrachten, ärgert ihn. „Ich bin zu hundert Prozent Russe, in Lettland beheimatet, und zu hundert Prozent Europäer“, sagt Wadim.

"Können uns keine Naivität gegenüber Russland leisten"

Tatsächlich sieht das auch der Mann, der’s wissen muss, so ähnlich: Artis Pabriks, Sicherheitsexperte und Verteidigungsminister Lettlands, hält ein ukrainisches Szenario für die baltischen Länder wegen ihrer Mitgliedschaft in Nato und EU für unmöglich. Zudem seien in Lettland die staatlichen Strukturen im Vergleich zur Ukraine gefestigt. „Und da wir Teil eines Bündnisses sind, würde jeder potenzielle Aggressor verstehen, dass dies Krieg bedeuten würde“, warnt Pabriks in seinem Amtszimmer in Riga. Auch er ist überzeugt, dass die ethnischen Russen in Lettland gerne hier seien – „manche mögen mit Moskau sympathisieren, aber sie möchten nicht dort leben“.

Dennoch warnt er vor Naivität im Umgang mit dem großen Nachbarn. Der Kreml habe das russische Militär an der Grenze zum Westen, zum Baltikum und Polen, in den vergangenen zehn Jahren um ein Vielfaches verstärkt – von den Iskander-Raketen in Kaliningrad über para-militärische Spezialtruppen oder Helikopter. Da ginge es nicht um Lettland im Speziellen, sondern um die EU-Außengrenze im Osten. Auch wenn die Nato ihre Truppen etwas verstärkt habe: „Wir sehen eine klare Asymmetrie in der Region des Baltischen Meeres, die aus sicherheitspolitischer Sicht bedenklich ist“, so der Minister. „Wir sind an guten Beziehungen zu unserem Nachbarn interessiert“, betont Pabriks. Doch die Balten könnten sich keine rosarote Brille gegenüber Russland leisten: „Für die baltischen Länder könnte eine Krisensituation bedeuten, dass unsere Existenz als Staat und das Leben unserer Bürger bedroht ist.“

"Singende Revolution"

Valdis Muktupavels wiederum ist in Lettland eine Institution für sich. Der 60-jährige Komponist, Musiker und Ethnomusikologe gilt als ausgewiesener Experte der lettischen Musik-Ästhetik – und auch ihrer politischen Bedeutung für die Unabhängigkeit Lettlands. Muktupavels sang und musizierte immer schon – und vor allem während der „Singenden Revolution“. Und er machte sich während der Sowjet-Besatzung, als es verboten war, Volkslieder zu singen, in denen die Vaterlandsliebe oder die Schönheit der lettischen Sprache gepriesen wurden, um die Erforschung authentischer lettischer Instrumente und Musik verdient. Muktupavels sitzt in seinem Unterrichtsraum an der Fakultät für Geisteswissenschaften und führt mit hurtig über die Saiten seiner Kokles springenden Fingern die Zartheit dieses traditionellen, Zither-artigen Saiteninstruments vor, gefolgt von hochtönenden Kunststücken auf seinem Dudelsack.

Er erinnert sich noch genau an die Zeit des Umbruchs. 1987, als Gorbatschow bereits Glasnost ausgerufen hatte, veränderte sich auch in den sowjetischen Satellitenstaaten das Klima. „Die Menschen verloren die Angst“, erzählt der Professor. Er selbst spielte zeitweise mit der bekannten Rockgruppe Perkons, deren Auftritte von der Sowjetmacht zwei Mal verboten worden waren. „Am Freiheitsdenkmal, wo die Menschen aus Angst vor der Sonderpolizei jahrelang nur mit gesenktem Blick vorübergingen, traute man sich auf einmal, Blumen niederzulegen – und Volkslieder zu singen. Und beim traditionellen Sänger-Festival, 1873 gegründet, um durch das gemeinsame Singen die lettische Nation zu einen, hatten in Sowjetzeiten russische Soldatenchöre den Großteil des Programms bestritten; alles Lettische wurde an den Rand gedrängt.

„Plötzlich sangen die Menschen auf dem Heimweg vom Festival ihre Volkslieder – und die Musik wurde zur Inspiration für Tausende Menschen.“ Angeblich kommt heute auf jeden Letten ein Volkslied. Schließlich wurde auch am 23. August 1981, beim wohl eindrucksvollsten Ereignis der Wende im Baltikum, gesungen: Über eine Strecke von mehr als 600 Kilometern entstand eine Menschenkette, die von Vilnius in Litauen über Riga bis nach Tallinn in Estland reichte, über Straßen, Wälder und Wiesen reichte, „Baltischer Weg“ genannt wurde und noch heute als die längste bekannte Menschenkette der Geschichte gilt. Friedlich singend forderten mehr als eine Million Balten ihre Unabhängigkeit – und demonstrierten ihre Einigkeit. „Die lettische kulturelle Tradition ist unglaublich vielfältig und facettenreich – Lettland hat den Totalitarismus mit der Vielfalt seiner Musik besiegt“, sagt Muktupavels.

Propaganda-Krieg gegen die Letten

Trotz seines persönlichen Einsatzes für die Eigenständigkeit Lettlands ist Muktupavels überzeugt: „Das Problem sind nicht die Menschen, die hier leben und Russisch sprechen. Das Problem ist der Kreml, der sie über die Propaganda im russischen Fernsehen instrumentalisieren möchte und die Gesellschaft spaltet.“ Aus gutem Grund, findet er, ist jetzt erneut ein russischer Sender in Lettland verboten worden. „Wenn ein ausländischer Sender permanent verkündet, Lettland würde als Staat ohnehin nicht mehr lange existieren und die Russen hier würden vollkommen unterdrückt, ist irgendwann eine Grenze erreicht.“

Er sieht an seinen Studenten, dass die Musik jetzt auch hilft, die Menschen zusammenzubringen. „Die jungen Russen-Stämmigen sind offen“, sagt er, „sie sind von Europa geprägt.“ Etwa zehn Prozent der Studenten, die sich heute bei ihm mit lettischer Volksmusik befassen, haben einen russischen Hintergrund. „Wenn sie musizieren, geht es einzig darum, sich mit dem Repertoire auseinanderzusetzen – und um sonst nichts“, sagt Muktupavels. Der pragmatischen Galina würde das gefallen.