Die Bilder aus Moria lassen niemanden kalt. Wer mit den Geflüchteten, die vor dem Feuer geflohen und elend am Straßenrand unter freiem Himmel ausharren, kein Mitleid empfindet, hat kein Herz. Den Menschen muss geholfen werden, und das schnell und sofort. Nicht nur den notleidenden Kindern und Frauen. Es mag sein, dass Bewohner des Flüchtlingslagers den Brand gelegt haben, sei es, um ihre Verlegung auf das griechische Festland oder in andere europäische Länder zu erzwingen, sei es in einem Akt der Verzweiflung. Doch das gibt niemandem das Recht, alle 13.000 Bewohner des seit Jahren hoffnungslos überfüllten Lagers wie Verbrecher zu behandeln.

Wer jetzt eine rasche Verteilung zumindest der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen fordert, reagiert menschlich und folgt einem christlichen Impuls. Kanzler Kurz und seine ÖVP-Riege bleiben jedoch hart. Außenminister Schallenberg fordert zur „Deemotionalisierung“ auf. Mit anderen Worten: Die Politik dürfe sich nicht von Mitleidsgefühlen leiten lassen. Sie müsse vielmehr mit kühlem Kopf handeln. Diejenigen, welche die Aufnahme von Kindern fordern, und sei es auch nur eine kleine Zahl, kanzelt er als Schreihälse ab.

Nicht nur die Wortwahl, sondern auch die aus ihr sprechende Haltung gegenüber denen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, ist eines Regierungsmitglieds unwürdig. Die Frage, welche Rolle Emotionen in Moral und Politik spielen und spielen sollen, ist damit freilich noch nicht beantwortet. Die neuere Ethikforschung betont die Rolle von Emotionen und Intuitionen für unser moralisches Urteilsvermögen und Verhalten. Gefühle spielen aber auch in der Politik eine wichtige Rolle. Hoffnungen, Ängste, Sympathien und Ressentiments üben eine starke Wirkung auf das politische Geschehen aus. Politik hat nicht nur die Aufgabe, solche Gefühle zu kanalisieren oder auf sie zu reagieren. Sie setzt Gefühle auch gezielt ein. Es stellt sich aber die Frage, in welchem Werterahmen dies geschieht. Das kann ein von demokratischen Überzeugungen oder auch ein von populistischen oder autoritären Ideen geleiteter Politikansatz sein.

Im Unterschied zur Flüchtlingspolitik setzt der Kanzler in der Coronakrise übrigens selbst auf die Macht von Gefühlen: auf das Gefühl der Angst, das die Bevölkerung motivieren soll, weiterhin die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu befolgen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Kanzler im selben Atemzug, in dem er seine restriktive Flüchtlingspolitik verteidigt, mit eindringlichen Worten das Augenmerk auf die Gefahren einer zweiten Coronawelle zu lenken versucht.

Gefühle lassen sich nicht gegen die Vernunft ausspielen. Für sich genommen genügen sie aber nicht als Grundlage für ethisches wie für politisch durchdachtes Handeln. Man kann von Mitleid überwältigt und handlungsunfähig werden. Man kann auch aus Mitleid das Falsche tun.
Was nottut, ist eine Form der engagierten Vernunft, also eine rationale Politik, die sich nicht allein von Gruppeninteressen und Machtstreben leiten lässt, sondern auch von moralischen Erwägungen. Allerdings prallen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik gegensätzliche Moralvorstellungen aufeinander. Anhänger einer universalistischen Moral, die im Zweifelsfall keinen Flüchtling abweisen möchten, ganz gleich, aus welche Motiven er nach Europa kommt, stehen den Verfechtern einer partikularen Moral gegenüber, die betonen, es gebe kein Menschenrecht auf Einwanderung in jedes Land der Wahl. Auch müsse man zwischen Flüchtlingen, Asylberechtigten und sonstigen Migranten klar unterscheiden und jedem Staat das Recht zubilligen, darüber zu entscheiden, wen man ins Land lassen will und wen nicht.
Es handelt sich also nicht nur um einen Streit zwischen Politik und Moral, sondern um einen Konflikt zwischen gegensätzlichen Moralbegriffen. Wie NGOs, die Kirchen oder auch die Grünen beruft sich auch der Bundeskanzler auf Moral. Er könne die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, weil dadurch eine fatale Kettenreaktion ausgelöst würde. Man dürfe nicht dieselben Fehler wie 2015/16 begehen.

Nun lässt sich über Pull- und Pushfaktoren in Flucht- und Migrationsbewegungen trefflich streiten. Die griechische Regierung befürchtet übrigens eher eine negative Sogwirkung, wenn das Lager auf Lesbos geräumt würde. Athen setzt eindeutig auf Abschreckung – zumal es bisher mit den übrigen EU-Partnern eher schlechte Erfahrungen gemacht hat –, zugleich aber auf ein erneuertes Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das bisher nicht richtig funktioniert hat.

Der ethische Konflikt in der Flüchtlingskrise lässt sich im Anschluss an Max Weber auch als Gegensatz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik beschreiben, wobei die Konfliktlinien nicht entlang der Parteigrenzen, sondern quer zu ihnen verlaufen. Während die Gesinnungsethik das Gute ausschließlich an den handlungsleitenden Prinzipien und der guten Absicht festmacht, fragt Verantwortungsethik auch nach den möglichen Folgen unseres Tuns. Christliche Ethik ist übrigens nicht einfach mit Gesinnungsethik gleichzusetzen. Auch Verantwortungsethik lässt sich christlich gut begründen. Das zu betonen, halte ich im Ringen um eine Lösung in der Flüchtlingspolitik für wichtig.
Überhaupt sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik für Weber „nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“. Man hüte sich also vor falschen Alternativen.

Läuft Verantwortungsethik in der Politik aber nicht darauf hinaus, dass der Zweck die Mittel heiligt? Weber erklärt unumwunden: „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt“. Ethik schützt uns nicht vor möglichen Dilemmata, in denen man nur zwischen zwei Übeln abwägen kann.

Auch Gesinnungsethik entkommt solchen Problemen nicht, es sei denn um den Preis eines kompromisslosen Rigorismus. Diese schmerzhafte Erfahrung machen gerade die Grünen. Die Klubobfrau der Grünen im Nationalrat, Sigrid Maurer, erklärte vergangene Woche, die Grünen seien nicht gewählt, um ihre Haltung zu zelebrieren, sondern um Verantwortung zu übernehmen. Mit einem möglichen Bruch der Koalition sei keinem einzigen Flüchtlingskind in Moria geholfen.

Der Philosoph Konrad Ott sagt es so: Eine konsequente Gesinnungsethik lasse sich politisch nicht durchhalten, eine reine Verantwortungsethik moralisch nicht. Vor diesem Dilemma stehen nicht nur die Grünen, sondern wir alle gemeinsam in der Flüchtlingspolitik. Ich hielte es für richtig, eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen aus den Lagern auf Lesbos in Österreich aufzunehmen, ohne darum einen restriktiven Kurs in der Migrationspolitik aufzugeben. 2015 muss und wird sich deshalb nicht wiederholen. Hilfe vor Ort, wie sie die Regierungskoalition beschlossen hat, ist zu begrüßen. Man sollte jedoch das eine tun, ohne das andere zu lassen. Das wäre nicht nur menschlich, sondern auch politisch klug. Österreich könnte so einen konstruktiven Beitrag zu einer überfälligen gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik leisten, statt weiter diejenigen Staaten zu bestärken, die sich jeder gemeinsamen Lösung durch Abschottung verschließen. Das ethische Grunddilemma wird damit freilich nicht aus der Welt geschaffen. Es wäre schon viel für den politischen Diskurs gewonnen, wenn wir uns dies gegenseitig eingestehen könnten.