Seit Jahren wird als Beweis für die Ungerechtigkeit unseres Schulsystems angeführt, dass Bildung vererbt wird. Nur eine (ganztägige) Gesamtschule, in der Kinder aus bildungsfernen Schichten besonders gefördert werden, könne Abhilfe schaffen. Dennoch vermag auch eine solche Schulform niemals den Einfluss des Elternhauses wettzumachen.

Jeden Abend habe ich unseren Kindern vorgelesen und -gesungen, am liebsten das „Abendlied“ von Matthias Claudius. Nun trägt unsere älteste Tochter ihrer Kleinen die unsterblichen Verse vor: „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen“ ... Elena (2) unterbricht ihre Mutter: „Mama, was heißt ,prangen‘?“ Antonia fährt fort, muss aber gleich das nächste Wort erklären: „Was heißt ,schweiget‘?“ Viele neue Wörter lernt unsere Enkelin kennen, und wenn sie in die Schule kommt, wird sie einen größeren Wortschatz haben als Kinder, denen nie vorgelesen wurde. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Kinder zu fördern: handwerklich, musisch, sportlich, im Bewusstsein für Mitmenschlichkeit. Auch sozial benachteiligte Eltern können das. Herzensbildung bedarf keines Studiums.

Nicht der Wochenendausflug in ein überfülltes Skigebiet macht das Familienleben aus, sondern die einfachen Dinge, die Kinder gemeinsam mit Mama und Papa tun. Bindung braucht Vertrauen, Muße, Geduld und verlässlich wiederkehrende Rituale im Alltag. Die letzten Monate haben wie unter einem Brennglas ein Dilemma aufgezeigt, das selten zur Sprache kommt: Viele Eltern können oder wollen kaum noch gemeinsame Zeit mit ihren Kindern verbringen, sei es aus beruflicher Überlastung, sei es aus Bequemlichkeit.

Die Familie ist eine Schicksalsgemeinschaft, in die ein Kind hineingeboren wird und aus der es nur selten ein Entkommen gibt. Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen. Jede Familie ist ein kleiner Kosmos für sich, Glück und Unglück sind sehr unterschiedlich verteilt. Das eine Kind tritt seinen Lebensweg mit einem großen Rucksack an, das andere leicht und unbeschwert. Und kein Schulsystem kann diese Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen.