Ganz zugespitzt könnte man behaupten, diese heute 60-jährige Frau hat ihr Lebenswerk als junges Mädchen auf Trümmern errichtet. Die Rede ist von Gabriele Susanne Kerner. Nena wurde sie als Kind im Spanien-Urlaub von Einheimischen genannt, als Nena sollte sie später auch auf der Neuen Deutschen Welle reiten. Wir schreiben das Jahr 1982. Nato-Doppelbeschluss und Atomkriegsstimmung schweben in einem politischen Vakuum über den Köpfen der deutschen Bevölkerung. Die Welt hat den Finger am imaginären Bombenknopf. Bei einem Rolling-Stones-Konzert in Berlin steigen bunte Luftballons in den Himmel. Sie liefern die Idee für Nenas Welthit und Antikriegshymne „99 Luftballons“. Der Text stammt aus der Feder des Gitarristen der Band, Carlo Karges.

Noch heute singen, summen und kreischen Menschen dieses Lied mit. Ob im Kindergarten, wo primär die stattliche Anzahl von 99 Luftballons begeistert, beim Zeltfest, wo recht unpolitisch die Gemeinschaft mit dem Refrain beschworen werden kann, oder auf Friedensdemos, dort freilich mit Originaltext. Nena wird am 24. März also 60 Jahre. Alt? Jung? Die 80er hat sie jedenfalls überlebt. Im wahrsten Sinne des Wortes. 1983 schaffte sie den Einstieg in die japanischen und amerikanischen Charts. Diesen Meilenstein teilt sie bis heute mit ganz wenigen. In den 90er-Jahren galt sie als uncool. In den 2000ern interpretierte sie ihre alten Mitsing-Hymnen neu. Und gerade jetzt feiern die 80er-Jahre ihre Wiederauferstehung.

Wäre das globale Deutsch-Pop-Phänomen also auch heute noch möglich? Vermutlich nicht. Sicher kann man diese Frage nicht beantworten, Erben der deutschen Pop-Großmutter müssen sich auf ihrem Gang durch die Musikgeschichte erst beweisen. Vierzig Jahre Showgeschäft hat da noch niemand am Buckel.  Bands wie Silbermond oder Juli wollten es der Grande Dame nachmachen. Auf geradezu alberne Weise kopierten die Frontfrauen das Aussehen von Gabriele K. Mit männlicher Band im Rücken, Gitarre, Schlagzeug und einer Annäherung an Rockmusik versuchten sie, sich der Ikone in den 2000ern anzunähern. Auf die Selbstermächtigungs-Attitüde von Nena vergaßen sie ganz. Nein, für die potenziellen Nachfolgerinnen hat es im Grunde nie gereicht.

Heute sind nicht nur die Grenzen zwischen West- und Ostdeutschland geöffnet, sondern auch die Mauern der Pop-Welt längst eingerissen. Der Musikerin, dem Musiker eröffnete diese Veränderung eine Art Selbstbedienungsladen, in dem sie und er vergnüglich das gesamte Sortiment zur Auswahl hat. Jedes Genre kann heute ausgeborgt und benutzt werden. Pop ist Rap, Rock, Electronic. Eine Rapperin singt heutzutage selbstverständlich und schreibt Songs mit Rock-Gitarren-Riffs. Gewiss, Nena war nie Nina Hagen, doch sie übersetzte die Punk-Töne des Untergrunds in ein phrasiertes, breitentaugliches Arrangement.

Die gebürtige Gabriele K. manifestierte mit ihrer Stimme, die immer ein bisschen nach Morgenkater und Lallen klang, so ihren Platz als Dolmetscherin in der Ära der Neuen Deutschen Welle. Sie textete kritisch und verbissen, aber ohne anarchischen Giftzahn. Sie spielte das „kleine Mädchen“, ohne dabei zu zahm zu wirken. Was Nena ausmacht, ist nicht nur das, was sie geschaffen hat, sondern die Zeit, zu der sie es geschafft hat. Die Luftballons waren für sie nie eine Bürde. Sie liebt das Lied, wie sie in Interviews verrät, bis heute. Doch ihr Schaffen hatte immer mehr zu bieten als heiße Luft und aufgeblasene Ballons.

Nena und ihre Nachfolgerinnen

Silbermond:
Nicht nur mit der Formation erinnert die 1998 gegründete Deutsch-Pop-Rock-Band „Silbermond“ an Nena. Die Pop-Großmutter, die 2001 den Song „Silbermond“ veröffentlichte, inspirierte die Band aus Bautzen, die bis dahin als JAST auftrat, auch zur Namensänderung im Jahr darauf. Bis 2017 verkaufte Silbermond rund sechs Millionen Tonträger. Die freche Seite von Nena hat die Gruppe um Stephanie Kloß aber nicht verkörpert. Hits wie „Symphonie“ oder „Irgendwas bleibt“ sind im schmalzigen Pathos angesiedelt.

Jennifer Rostock
In Sachen Aufmüpfigkeit und politisches Engagement kann es die im Jahr 2007 gegründete Berliner Band Jennifer Rostock schon eher mit Nena aufnehmen. Frontfrau Jennifer Weist trägt zwar keine Lederjacken, dafür aber einen hautengen „Body“ aus Tattoos. Die Message ist mit Songtiteln wie „Hengstin“, „Du willst mir an die Wäsche“ der „Liebe Bild“ klar. Jennifer Rostock schreibt Großstadt-Pop-Punk, der aneckt, Spaß macht, nicht allzu wehtut, von dem man aber gerne öfter vom Schlafen abgehalten werden möchte.

Alli Neumann
Die lallend-heisere Stimme erinnert sofort an die Grande Dame Nena. Doch Alli Neumann, die bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in Polen lebte, hat ihren ganz eigenen, urbanen Zugang zum deutschsprachigen Pop gefunden. 2018 veröffentlichte sie ihre Debüt-EP „Hohes Fieber“, 2019 folgte das zweite Mini-Album „Monster“. Auf Liedern wie „Was ist denn los“ oder „Merlot, Macht und Muse“ übt die Sängerin und Schauspielerin die ganze große Geste zwischen New Soul und DIY-Arena-Rock.