Das muss man sich einmal vorstellen: Mehr als 90 Prozent des Landes bestehen aus Gebirgen. Mit mehr als 2000 Gletschern, von denen die meisten keinen Namen tragen. Und mehr als die Hälfte ihrer Gipfel ragen mehr als 3000 Meter gen Himmel.

Der höchste ist der Pobeda, der stolze 7349 Meter misst. Und so begleiten einen, wenn man die Republik mit ihren sechs Millionen Einwohnern bereist, stets eine ihrer drei schneebedeckten Gebirgsketten – Alai, Pamir und Tienschan. Auf Schritt und Tritt dabei ist neben der Reiseleiterin auch ein junger Arzt nebst dicker Doktortasche voller Medikamente. Das ist dort so Usus und eigentlich ganz beruhigend.

Dort meint Kirgistan. Es kursiert bei uns auch unter den Namen Kirgisistan oder Kirgisien, liegt in Zentralasien und grenzt im Norden an Kasachstan, im Osten an China, im Süden an Tadschikistan und im Westen an Usbekistan. In der Hauptstadt Bischkek (einst Frunse) leben knapp eine Million Einwohner und damit ein Sechstel der Gesamtbevölkerung.

Es ist eine ausgesprochen grüne Stadt mit viel Wasser. Obwohl man 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, wird die Stadt immer noch von kommunistischen Protzbauten zweifelhaften Geschmacks dominiert und es wird neben Kirgisisch immer noch Russisch gesprochen. Und allgegenwärtig sind, speziell am Hauptplatz, die riesigen Statuen von Bogatyr Manas, jenem Helden, der im 9. Jahrhundert für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft hat. Über ihn gibt es ein Epos, das über Jahre immer weiter ausgeschmückt wurde und das mit mehr als 500.000 Versen als das längste in dieser Form erzählte der Welt gilt.

Kirgistan ist ein Land der Nomaden und der Steppen mit Unmengen von Wildpferden und hat seine Traditionen bis heute bewahrt. Seine Fahne enthält klare Botschaften: Der Adler steht für Freiheit, die rote Farbe für Kraft, die gelbe für Reichtum und sie enthält 40 Sonnenstrahlen, eine Zahl, die für die Kirgisen symbolhaft ist. So tragen Frauen in Tracht in der Regel 40 geflochtene Zöpfe. In den abgelegenen Hochgebirgsregionen im Tienschan-Gebirge leben höchst seltene Tierarten, wie der Schneeleopard und das Marco-Polo-Schaf. Auch Braunbären, Steinböcke, Luchse und Wölfe gibt es hier.

Auf dem Weg von der Hauptstadt zum Yssykköl-See liegt der Burana-Turm der ehemaligen, antiken Stadt Balasagun. Er ist das Wahrzeichen des Landes und gilt als eines der ältesten Bauwerke dieser Art in Zentralasien. Im 10. oder 11. Jahrhundert errichtet, betrug seine Höhe einst 40 Meter. Heute misst er wegen eines Erdbebens nur mehr knapp 22. Im Inneren führt eine enge Wendeltreppe zur Plattform. Von hier oben eröffnet sich ein herrlicher Panoramablick auf das Tschüi-Tal und die Gebirgskette und anhand der verbliebenen Überreste formt sich ein Bild von der ehemaligen Stadt.

Aus dem Boden ragen auch einige sogenannte „Balbals“alte Steinfiguren aus dem 6. Jahrhundert, die aus den Bergen hierher transportiert wurden, um sie vor Diebstahl zu schützen. Vermutlich stellen die Balbals ehemalige Herrscher dar.

Sicher ist hingegen, dass man am „Kirgisischen Meer“ haltmachen sollte. Dem Yssykköl, was so viel wie „heißer See“ bedeutet. Er wirkt wie ein Auge vor den mächtigen Erhebungen des Tienschan, des Himmelsgebirges, das hier bis zu 5000 Meter aufragt. Und er hat Dimensionen, die ihn zum zweitgrößten Hochgebirgssee der Welt machen: 182 Kilometer lang, bis zu 60 breit – mit 6286 km2 Fläche elf Mal so groß wie der Bodensee. Da steht er nur hinter dem viel bekannteren Titicacasee in Südamerika zurück.

Und man bestaunt ihn wegen seiner sprichwörtlichen Schönheit. Gespeist von den Flüssen der Gletscher, ohne Abfluss und leicht salzhaltig, wodurch er nie zufriert. Im Sommer kann man trotz 1600 Meter Seehöhe darin baden. Entlang des Ufers gibt es zahlreiche Ressorts, die nicht nur von Kirgisen, sondern auch Kasachen und Russen, vornehmlich aus Moskau und St. Petersburg, heimgesucht werden. Unendliche Pappelreihen und Obsthaine, die im Herbst mit feuerrotem Laub ein pittoreskes Bild erzeugen, wachsen an den Gestaden. Der See ist Revier von Wasser-, aber auch Zugvögeln. Nur Fische gibt es praktisch keine mehr: Sie wurden durch Einsetzen fremder Arten stark dezimiert und letztlich ausgefischt.

Jeder, der Kirgistan besucht, sollte zumindest eine Nacht in einer Jurte verbringen, was viele Veranstalter bei Rundreisen anbieten. Da werden die Erinnerungen an das Campieren in der Jugend wieder wach. Denn Jurten sind nichts anderes als riesige, stark befestigte, aber einfache Zelte, in denen es nächtens schon recht frisch werden kann. Sie sind mit Teppichen ausgelegt, worauf man auf dicken Matratzen schläft. Die Mahlzeiten werden in einer eigenen, noch größeren Jurte am Boden sitzend recht urig gemeinsam eingenommen.

Hier in Seenähe finden Nomadenspiele mit Pferden statt. Auch hier empfiehlt es sich, typischer Tourist zu sein und sich die Vorführung anzusehen: Zwei Mannschaften mit je fünf Reitern müssen eine kopflose und folgerichtig tote Ziege aufs Pferd heben und in ein gemauertes Loch werfen, was die andere Mannschaft natürlich zu verhindern sucht. Das erfordert viel Kraft, denn das tote Tier wiegt meist so um die 20 Kilogramm. Ein vielleicht etwas makabrer, aber spannender Kampf, der von allen Reitern mit viel Ambition geführt wird.

Karakol am Ostende des Sees ist idealer Ausgangspunkt für Fahrten ins Gebirge. Es gibt organisierte Ausflüge mit Geländebussen mit riesigen Rädern in abenteuerliche Schluchten, wo man mangels befestigter Wege so richtig durchgeschüttelt wird. Es gibt aber auch gemäßigte Fahrten, die zum „Gebrochenen Herzen“, einer Felsformation, die genau so aussieht, oder zu den „Sieben Stieren“ (imposante, rötliche Felsformationen, die an Rindviecher erinnern) führen.

In diesen Gegenden kommen Wanderbegeisterte voll auf ihre Kosten. Und es gibt eine Schlucht, den sogenannten „Fairytale Canyon“ – stark an den Bryce Canyon im US-Bundesstaat Utah erinnernd –, mit märchenhaften, fantasievollen, figurenähnlichen Formationen aus rotem Sandstein, die teils auch Namen haben und die man wunderbar durchwandern kann. Zu deren Füßen kann man nicht anders als kirgisischen Adlerjägern dabei zuzusehen, wie sie den König der Lüfte gen Himmel fliegen lassen. Der Adler, der für die Freiheit steht.

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