In den Erzählungen von Großeltern und Eltern erblühen Eisblumen noch in ihrer vollen Pracht. Früher, in Zeiten zugiger Fenster mit dünnem Glas, waren die Scheiben am Morgen oft beinahe zugewuchert von kristallenen Zaubergewächsen. Man musste sich bloß hüten, die Nase zu dicht an die Scheibe zu drücken oder zu heftig den warmen Atem auszustoßen, denn dann schmolz die Pracht sehr rasch dahin.

Das Mirakel ist einfach erklärt: Je tiefer die Temperaturen im Freien sinken, desto mehr kühlt auch eine einfache Fensterscheibe an der Innenseite ab. Die Feuchtigkeit im abgekühlten Wohnraum, die tagsüber von der erwärmten Luft absorbiert wurde, legt sich an die Scheiben und gefriert sogleich. Vorausgesetzt, das Glas ist nicht klinisch sauber und hält als Grundstock das eine oder andere Staubkorn parat, dann kann die Kristallisation, die Entfaltung der Eisblumen beginnen. Kurzum, stimmen die Verhältnisse, dann wachsen die Blumengebilde.

Für den Schriftsteller Karel (C)apek ein klarer Fall: „Eisblumen gedeihen eher bei armen Leuten als bei reichen, weil bei den Reichen die Fenster besser schließen.“ Der Tscheche mit eindeutigem Hang zur Gartenphilosophie widmete etliche Überlegungen den Eisgebilden, denn „was die Vegetation im Januar betrifft, sind die Blumen am Fensterglase die bekanntesten“.

Heute treibt der Winter nur noch selten Blüten. Im Zeitalter von Energiesparen, Wärmedämmung und Dreifachverglasung haben Eisblumen keine Chance mehr. Dabei gehören sie nach wie vor zu jedem romantischen Winterbild. Ja, in Ermangelung echter Eisgebilde werden die bizarren Formen mittlerweile zum Aufsprühen angeboten.

Am ehesten kann man Eisblumen noch an ungeheizten Gewächshäusern entdecken.
Am ehesten kann man Eisblumen noch an ungeheizten Gewächshäusern entdecken. © (c) V. J. Matthew - stock.adobe.com (Verena Matthew)

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Gut, dass es noch die Überlieferungen von Dichtern und Denkern gibt. „Und wehrt mir der Himmel, den Frühling zu schauen, weil Winter umlagert die Wälder und Auen, so soll mir am Fenster auf eisigem Feld erstehn eine fröhliche, blühende Welt“, schwärmt die deutsche Schriftstellerin Eugenie Marlitt (1825–1887) in einem Gedicht.
Eisblumen sind in unserer Welt so selten geworden, dass sie ins Lexikon für bedrohte Wörter aufgenommen wurden. Apropos bedroht, Hobbygärtnerinnen und Hobbygärtner tun sich mit jedem ungeheizten Gewächshaus, mit jedem nicht isolierten Salettl als wahre Artenschützer hervor. Hier ist die Welt der Eisflora noch in Ordnung: formenreich, bizarr und märchenhaft.