Die Ankündigung der Öffnungsschritte wurde zwiespältig aufgenommen. Die einen jubelten – verständlicherweise – als verlautbart wurde, Mitte Mai einige der Corona-Maßnahmen zurückzunehmen. Andere wiederum beäugten die Ankündigung der Regierung mit Skepsis. Zu hoch war die Inzidenz in weiten Teilen des Landes, zu gering noch der Impfeffekt, weil große Teile der Bevölkerung noch nicht geimpft waren.

Verkündet wurden die Öffnungsschritte Mitte April. Am 19. April, vier Wochen vor den Öffnungen lag die 7-Tage-Inzidenz bei 189,2, am 19. Mai, dem Tag der Öffnungen betrug sie 54. Aktuell, am 26. Mai liegen wir mit 45,3 gar unter 50.

Zu dem Zeitpunkt, als die Öffnungen von Bundeskanzler Sebastian Kurz, Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein und Co. verkündet wurden, waren Experten noch unschlüssig. Es war nicht klar ersichtlich, dass die Zahlen derart fallen würden. Auch weil am 3. Mai die Öffnung nach dem Ost-Lockdown erfolgte und die Folgen dieser Schritte ebenso nicht zu 100 Prozent zu prognostizieren waren. Hinzu kam das Beispiel des der Modellregion Vorarlberg, in der die Zahlen nach der Gastro-Öffnung kontinuierlich gestiegen waren. Kurz: die Öffnungsschritte waren mit einem Risiko verbunden. Bleibt die Frage zu beantworten: Wieso sind die Fallzahlen so rasch und in einem solchen Ausmaß gefallen?

Es gibt immer mehr als ein Szenario

Ein Punkt soll dem Erklärungsversuch vorangestellt werden: Simulationsforscher wie Nikolas Popper oder Komplexitätsforscher Peter Klimek rechnen nie nur ein Szenario. Es gibt immer mehrere. Und wenn man mit ihnen spricht, fügen Sie immer die Wortkombination des „wahrscheinlichsten Szenarios“ an. Es liegt in der Natur der Menschen – und auch in jener der Medien – sich häufiger auf das wahrscheinlichste und noch viel öfter auf das dramatischste Szenario zu stürzen. Dieses bleibt uns in Erinnerung, dieses wird berichtet und gelesen.  

Der Faktor Saisonalität

Als ein Faktor wird immer die Saisonalität genannt. Das ist aber so eine Sache mit der wärmeren Jahreszeit und ihrem Einfluss auf die Verbreitung des Virus. „Ja, wir sehen einen massiven saisonalen Effekt“, sagt der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems. Die Tragweite des Effekts hat auch ihn überrascht. Aber er fügt hinzu: „Es gibt keine wirkliche wissenschaftliche Evidenz für die Saisonalität in Bezug auf Sars-CoV-2.“ Was es gibt, ist der Vergleich mit dem Vorjahr. Im Mai 2020 hatten wir in Österreich rund ein Zehntel der Fallzahlen, wir sind mit viel niedrigeren Zahlen in den Sommer gegangen. Und von anderen Coronaviren weiß die Wissenschaft, dass der Effekt der Saisonalität rund 20 Prozent beträgt, wie auch Christian Drosten im Podcast „Coronavirus-Update“ schildert.

Und es ist auch zu beobachten, dass man die Saisonalität alleine mit der Temperatur nicht erklären kann. Erstens waren die Temperaturen in Mitteleuropa in den letzten Wochen nicht so frühsommerliche, wie sich das viele erhofft hätten. Und zweitens sieht man am Beispiel Brasilien und der Variante P.1, dass die Temperatur als Erklärung zu kurz greift. Wir lernen: Saisonalität ist eine komplexe Angelegenheit.

Der Netzwerk-Effekt

Eva Schernhammer sieht weniger den saisonalen Effekt als Begründung, sondern mehr jenen des Netzwerks. „Im Zusammenhang mit dieser Pandemie sind wir ein Netzwerk, und nicht jeder Knoten dieses Netzwerks ist gleich wichtig“, sagt die Epidemiologin (MedUni Wien). Durch Impfungen oder auch durch eine durchgemachte Infektion würden für das Netzwerk zentrale Knoten immunisiert werden - mit zentralen Knoten sind vor allem Superspreader gemeint. Auf diese Weise seien wohl schon zahlreiche Infektionsketten unterbrochen worden.

Der psychische Effekt

Virologin Monika Redlberger-Fritz sieht einen weiteren Effekt, nämlich einen psychischen. Für viele Menschen sei der Impftermin in greifbarer Nähe. „Da fällt es leichter, sich noch einmal an alle Maßnahmen zu halten, weil man sich so kurz vor der Impfung nicht infizieren möchte.“

Der Impfeffekt

Womit wir beim Impfeffekt angelangt wären. Dieser zeigt sich aktuell vor allem am Rückgang der Sterbefälle, Intensivpatienten sowie Hospitalisierungen der höheren Altersgruppen. Damit sich der Effekt aber vollumfänglich auf Infektionszahlen und Übertragungsrate durchschlägt, müssten zwischen 40 und 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung geimpft sein, so Komplexitätsforscher Klimek. Das werde erst im Juli der Fall sein. Aktuell haben knapp 3,4 Millionen Menschen eine Impfdosis erhalten, das entspricht 38,17 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1,3 Millionen Menschen bzw. 14,6 Prozent sind laut E-Impfpass vollimmunisiert.

Hinzu kommen noch die Maßnahmen, wie etwa Maskenpflicht und Abstandsregel, die aktuell noch gelten.

Eine komplexe Antwort

Aber was es war es nun wirklich, was hat die dritte Welle gedämpft? Die Antwort ist komplex. Denn, und hier ist sich der überwiegende Anteil der Expertinnen einig. Es ist nicht die eine Maßnahme für den Rückgang verantwortlich. Es ist die Kombination zahlreicher Maßnahmen bzw. der geschilderten Effekte. Welchen Anteil diese jeweils am Rückgang haben, gilt es nun herauszufinden. Das wird die Aufgabe der kommenden Wochen sein, ist auch Komplexitätsforscher Klimek überzeugt. „Wir müssen die Faktoren des Rückgangs verstehen, um die richtigen Schlüsse für den Herbst ziehen zu können.“

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