Herr Hengstschläger, Ihr neues Buch heißt „Die Lösungsbegabung“. Was ist das und warum brauchen wir diese?

MARKUS HENGSTSCHLÄGER: Eine Begabung ist ein Potenzial das genetisch mitbestimmt ist, aber erst durch Umwelt, Wissenserwerb und Üben entwickelt wird. Begabungen werden meist erst sichtbar, wenn man sie umsetzt. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, welche Begabung von großer Bedeutung für die Zukunft ist. Ich komme zu dem Schluss, dass die Begabung, Neues noch nie Dagewesenes zu machen, Probleme zu erkennen und sie dann auch zu lösen, wohl die wichtigste ist. Darum schreibe ich über diese Lösungsbegabung – was das ist, wie man sie bei Kindern fördert und wie man sie dann ein Leben lang am Blühen hält.

Sie kritisieren, dass sich das Bildungssystem nicht auf Begabungen und Stärken, sondern auf Defizite und Schwächen stürzt.

Ein Beispiel: Ein Kind kommt aus dem Kindergarten und hat ein Haus gezeichnet - lila, rund, mit rundem Tor, und ohne Fenster. Die Eltern fragen: „Was ist das?“ Das Kind antwortet: „Das ist ein Haus.“ Und die Eltern denken, sie sollten dem Kind einmal zeigen, wie ein Haus wirklich aussieht und zeichnen ein quadratisches Haus, ein dreieckiges Dach, in der Mitte eine Türe, rechts und links Fenster und oben einen Rauchfang mit einer Rauchwolke. Würden wir sicher wissen, wie Häuser in Zukunft aussehen, dann wäre das ja OK. Ich nenne das „gerichtete Bildung“ und den Transfer gerichteten Wissens in die nächste Generation.

Und wenn nicht?

Es kommen viele unvorhersehbare Dinge auf uns zu, für die wir noch keine Lösungen haben. Was, wenn wir nicht sicher sind, wie Häuser in 30 Jahren aussehen? Dann müssen wir dafür sorgen, dass die nächste Generation durch „ungerichtete Bildung“ „ungerichtete Kompetenzen“, wie kreatives und kritisches Denken, emotionale Intelligenz etc. entwickeln kann, um selbst Probleme zu lösen.

Lässt sich Lösungsbegabung auch entwickeln wenn man bereits 50 ist und glaubt, man weiß schon viel übers Leben?

Gene sind nur Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreibt jeder selbst. Der Homo Sapiens, den es seit mindestens 300.000 Jahren gibt, ist nicht nur das vernunftbegabteste und sozialste Wesen auf diesem Planeten, sondern wie ich finde auch das lösungsbegabteste. Es müsste uns also tagtäglich begegnen, aber wenn man über Klimakrise, Migrationsthemen, Populismus, Rassismus bis hin zur Pandemie nachdenkt, stellt man sich nicht selten die Frage: Wo sind Vernunft, soziale Veranlagung oder Lösungsbegabung?

Wo sind sie?

Ich glaube, es gibt drei Typen auf dieser Welt: die blauäugigen Optimisten, die sagen, das wird sich schon ausgehen, ist es noch immer und „die“ werden das schon machen. Mit „die“ sind auf jeden Fall die anderen gemeint. Politik oder Wirtschaft, aber mit „die“ ist auch gerne die Wissenschaft gemeint. Die zweite Gruppe sind die eingefleischten Pessimisten, die sagen: „Das geht sich sowieso nicht aus.“ Auch sie stecken in der Mitmach-Krise. Ihre Begründung lautet oft: Der Mensch ist im Grunde schlecht. Der Mensch ist aber weder im Grunde gut noch schlecht.

Was ist er denn?

Der Mensch ist das Produkt seiner Gene plus der Umwelt plus Epigenetik, die eine soziobiologische Brücke ist und steuert, wie wir unsere Gene verwenden. Wir haben ganz viel selbst in der Hand. Das ist einerseits eine Chance, andererseits auch eine Verantwortung. Dazu gibt es auch eine schöne Parabel.

Erzählen Sie uns davon!

In etwa so: Ein Großvater sagt zu seinem Enkelkind: „In jedem Menschen leben zwei Wölfe. Einer ist sozial, vernünftig und lösungsorientiert und wird sich einbringen. Der andere ist machtgierig, xenophob, selbstsüchtig. Das Enkelkind fragt: „Opa, wer wird gewinnen?“ Seine Antwort: „Der, den du fütterst.“ Wir haben mehr in der Hand als wir glauben. Die dritte Gruppe, die sich lösungsbegabt einbringt, sagt: „Leicht ist es nicht, aber leicht war es noch nie.“ Wenn man betrachtet, was wir in den letzten Jahrhunderten schon alles zustande gebracht haben! Noch nie waren Gesundheit, Bildung oder Gerechtigkeit so gut wie heute. Wenngleich noch extrem viel Luft nach oben ist. Immer noch hungern Hunderte Millionen Menschen, gibt es Kriege oder zum Beispiel Rassismus.

In dieser Pandemie setzt die ganze Welt auf die Wissenschaft und hofft auf eine Impfung. Sind diese Erwartungen denn aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?

Einerseits ist die Wissenschaft der beste Begleiter, wenn es um Zukunftsfragen geht. Aber sie funktioniert nicht auf Knopfdruck und muss immer von der gerade Gestalt annehmenden Zukunft lernen. Die Menschen sehen aktuell vermehrt, wie Wissenschaft funktioniert.

Auf der anderen Seite misstrauen immer mehr Menschen den Zahlen und Theorien und wenden sich „alternativen Fakten“ zu.

Wir müssen die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen und uns vernunftbegabt die Arbeit antun, Fakten zu erklären. Angst ist, evolutionsbiologisch betrachtet, ein enorm wichtiges Instrument. Ohne Angst wäre der Schritt zu Tollkühnheit oder Dummheit oft zu klein. Ein wenig Angst hält Abwägungsprozesse in Gang. Aber zu viel Angst lähmt und ist kein guter Begleiter, wenn es um Lösungsbegabung geht.

Einer Ihrer Leitsätze lautet: „Die Gene sind wie Bleistift und Papier, aber die Geschichte schreibt jeder selbst.“ Welche Geschichte schreibt Corona mit uns?

Ich bin noch nicht wirklich so weit etwas Gutes aus dieser Krise ziehen zu wollen. Aber die Tante Jolesch von Friedrich Torberg hat gesagt: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“ Es ist noch ein Glück, dass uns diese Pandemie in Zeiten einer digitalen Transformation getroffen hat, die jetzt auch dadurch beschleunigt wurde. Man möge sich nur vorstellen, was zum Beispiel ohne Zoom, Skype oder Online-Bestellungen gewesen wäre. Die Pandemie hat uns auch gezeigt, dass ein kleiner Beitrag ein großer sein kann, wenn es um die Gesamtlösung geht. Wer sich nicht bewegt und mit offenen Augen und Ohren lösungsbegabt durch die Welt geht, kann weder finden, was er sucht, noch was er nicht sucht.

Die aktuelle Krise wird sich noch verschärfen. Viele Menschen sind arbeitslos, andere wiederum bangen um ihre Jobs oder strudeln sich zwischen Home-Office und Kinderbetreuung ab. Hat man da überhaupt noch Zeit für solche Spielereien?

Ich gebe Ihnen mit allem Recht, außer mit dem Wort „Spielereien“. Gerade in Zeiten wie diesen ist die Förderung und der Einsatz der Lösungsbegabung das Existenziellste.

Am Ende Ihres Buches zitieren Sie Nestroy mit „Warum soll die Gegenwart dem ihre Blicke schenken, der immer mit der Zukunft kokettiert?“ Ist Lösungsbegabung ein Thema, das die Gegenwart betrifft?

Mein Buch macht sich über die Zukunft Gedanken, aber man braucht dafür die Kompetenz, die Gegenwart zu nutzen. Man muss sagen: „Heute, hier und jetzt bringe ich mich ein“. Wir müssen jetzt über die Klimakrise, Populismus, Terrorismus oder Migrationsthemen reden. Und wir dürfen nicht vergessen: Der Mensch hat durch seine Lösungsbegabung eine Riesenchance. Er hat selbst viel in der Hand und jede und jeder kann zu einer Veränderung beitragen.