Obwohl die spinale Muskelatrophie, kurz SMA, zu den seltenen Erkrankungen zählt, ist sie laut Günther Bernert, Präsident der österreichischen Muskelforschung, gar nicht so selten: „SMA ist die zweithäufigste der genetisch bedingten Muskelerkrankungen. Das hat damit zu tun, dass es viele Menschen gibt, die diese Erkrankung übertragen können. Bekommen zwei solcher Menschen ein Kind, liegt das Risiko bei 25 Prozent, dass das Kind erkrankt.“ In Österreich kommen pro Jahr etwa elf Kinder mit SMA zur Welt – davon wiederum haben etwa sechs Kinder die schwerste Form der Erkrankung.

Den Betroffenen fehlt ein wichtiges Protein – dadurch gehen jene Nerven zugrunde, die notwendig sind, um die Muskeln des Körpers steuern zu können. Muskeln, die sich nicht bewegen, werden abgebaut: Zuerst macht sich die Erkrankung in jenen Muskeln bemerkbar, die nahe am Rumpf sind – doch im weiteren Verlauf sind alle Muskeln des Körpers betroffen. Das beeinträchtigt auch lebenswichtige Funktionen wie die Atmung und die Nahrungsaufnahme. Kinder, die von der schweren Form SMA 1 betroffen sind, erlernen laut Definition nie das Sitzen oder Laufen und versterben ohne Therapie in den ersten zwei Lebensjahren.

„Doch im Jahr 2017 mit der Markteinführung von Spinraza mussten wir die Lehrbücher neu schreiben“, sagt Bernert. Dieses Medikament stellte die erste Therapie für diese schwere Erkrankung dar, indem ein körpereigenes Reserve-Gen des krankhaften Gens hochgeschaltet wird. „Die Verläufe bessern sich durch die Therapie gravierend“, sagt Bernert. „Kinder mit der schweren Form überleben nicht nur die ersten Jahre, sondern zeigen eine motorische Entwicklung.“ Kinder, die sehr früh behandelt wurden – siehe auch Mirabell – lernen laut Bernert sogar gehen.

„Entscheidend ist, dass die Therapie so früh wie möglich beginnt“, unterstreicht Barbara Plecko, Leiterin der Abteilung für Allgemeine Pädiatrie am LKH-Uniklinikum Graz und Kinderneurologin. Deshalb fordern die Experten auch, dass die Muskelkrankheit SMA in das Neugeborenen-Screening aufgenommen wird: Dadurch würde jedes Kind gleich nach der Geburt auf diesen genetischen Defekt hin untersucht werden und könnte dann, bei Diagnose einer SMA, noch vor Auftreten der ersten Symptome behandelt werden. Bernert hofft, dass SMA schon im nächsten Jahr Teil des Neugeborenen-Screenings wird.

Gentherapie für knapp 2 Millionen Euro

Nun beschäftigt eine neue Therapiemöglichkeit Experten, betroffene Familien und die Weltpresse: Zolgensma heißt das Medikament, das in den USA bereits zugelassen ist, in Europa noch auf die Zulassung wartet.

Diese Therapie ersetzt die Funktion des defekten Gens – es ist eine Gentherapie, die in die betroffenen Zellen eingeschleust wird. Laut Angaben des Herstellers Avexis muss die Therapie auch nur einmalig verabreicht werden. Und im Unterschied zu Spinraza kann das Medikament als Infusion gegeben werden, eine Injektion in den Rückenmarkskanal ist nicht notwendig.

Für den internationalen Aufschrei sorgte der Preis: Die Einmal-Dosis kostet zwei Millionen Dollar, was knapp zwei Millionen Euro entspricht. Damit ist Zolgensma die teuerste Einzeldosis eines Medikaments, die es je gab. Die Hersteller rechtfertigen das damit, dass es sich um eine Einmaltherapie handle und ein Leben lang wirke. Die Firma zieht auch den Vergleich zur verfügbaren Therapie mit Spinraza, die im ersten Jahr sechsmal und in den Folgejahren dreimal jährlich verabreicht werden muss: Die Einmaltherapie entspreche den Kosten von etwa fünf bis sieben Jahren Spinraza-Therapie.

Ist so ein Preis zu rechtfertigen? „Diese Firmen sind börsennotiert und wollen Geld verdienen“, sagt Bernert – noch dazu, wo Firmen nie wissen, wie lange es dauert, bis ein Konkurrenzprodukt auf den Markt kommt. „Ich finde die Kosten exorbitant hoch, aber ich finde auch Kosten etlicher anderer Medikamente extrem hoch“, sagt Bernert. Aus seiner Sicht brauche es eine zentrale Behörde, die angemessene Medikamentenpreise für die ganze EU verhandelt. Ärztin Plecko gibt zu bedenken, dass die Studien bisher nur kleine Patientengruppen und einen kurzen Zeitraum umfassen – ob die Therapie tatsächlich ein Leben lang wirke, sei noch nicht gesichert. Ob Zolgensma die Revolution darstellt, die es verspricht, wollen die beiden Experten noch nicht abschließend beurteilen.

"Unethisch": Gratis-Gaben werden verlost

Da die Zulassung von Zolgensma außerhalb der USA auf sich warten lässt, hat Hersteller Avexis kürzlich ein Härtefallprogramm gestartet: Hundert Dosen pro Jahr werden betroffenen Kindern weltweit gratis zur Verfügung gestellt. Die Auswahl der Kinder beruhe auf einem dreistufigen Verfahren, das Fairness und medizinische Notwendigkeit einbeziehen soll, so die Hersteller, die auch mit einer beschränkten Produktionskapazität argumentieren.

Experten lehnen ein solches Vorgehen entschieden ab: „Die Vergabekriterien sind völlig intransparent, ich finde das unethisch“, sagt Bernert. Der Experte sieht darin eine Marketing-Maßnahme. Und auch Plecko unterstreicht: „In Fachkreisen wird das abgelehnt – wegen des Lotterie-Charakters und des Bruchteils der Patienten, die dabei zum Zug kommen.“

Die endgültige Zulassung für Zolgensma in Europa erwarten die Hersteller für Mitte dieses Jahres – für betroffene Familien ginge damit ein banges Warten und Hoffen zu Ende, denn, und auch das unterstreicht Expertin Plecko: „Eine Therapie kann nur das an Fähigkeiten retten, was noch zu retten ist.“

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