Die Warnung der Kinderärztin Nicole Grois ist eindringlich: „Diese Entwicklungsstörungen kann eine ganze Generation betreffen, wir sehen hier ein großes Problem.“ Und dieses Problem sieht so aus: Kinder, die schon sehr früh täglich Stunden mit Handys oder Tablets spielen oder vor Fernsehgeräten „geparkt“ werden, können dadurch Sprach- und Verhaltensstörungen entwickeln. Es könne sogar ein sogenannter Pseudo-Autismus entstehen – der Hintergrund: „Kinder, die sich schon vor einem Alter von zwei Jahren täglich bis zu drei Stunden mit einem Bildschirm statt mit Bezugspersonen beschäftigen, fehlt es an Anregung. Es besteht die Gefahr, dass Kinder kaum soziale Fähigkeiten entwickeln – ähnlich wie autistische Kinder“, warnt Grois, die auch Mitglied der Gesellschaft für Kinder und Jugendheilkunde ist.

Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Göttl sieht dieses Problem: „Es ist jedenfalls angebracht, hier von Pseudo-Autismus zu sprechen: Ersetzen Bildschirme den realen Kontakt mit Menschen und Tieren, führt das zu einem Verkümmern oder gar nicht erst Ausbilden des sozialen Gehirns.“

Soziales Lernen – wie geht man mit Mitmenschen um, was bedeuten Mimik und Gesten – könne nur im realen Kontakt mit anderen Menschen stattfinden. „Verbringen Kinder mehr als eine Stunde pro Tag vor Bildschirmen, sehen wir schon Auffälligkeiten im Vergleich mit anderen“, sagt Göttl.

Weniger weiße Substanz im Gehirn

Obwohl Experten empfehlen, Kinder in der frühen Entwicklungsphase ganz von solchen Medien fernzuhalten, nutzen Eltern diese Medien als „Babysitter“, um ihre Kinder zu beschäftigen – vor allem wenn sie selbst im Alltag stark belastet sind, sagt Grois. Was dadurch im Gehirn passieren kann, haben Forscher in einer aktuellen Studie untersucht: Die Menge an weißer Substanz im Gehirn von Kleinkindern, die mehr als zwei Stunden pro Tag vor einem Bildschirm verbringen, ist geringer als bei Kindern, die keine Bildschirmmedien nutzten. Die weiße Substanz des Gehirns hilft bei der Verarbeitung und Organisation von Gedanken und anderen wichtigen Funktionen wie der Sprache.

Grois beobachtet außerdem, dass es durch die ständige Berieselung aus Bildschirmgeräten auch zu Essstörungen kommt: „Kinder wollen nur noch dann essen, wenn ein spezielles Programm läuft.“

Das Verhalten, das durch zu viel Bildschirm-Zeit entsteht, beschreibt Grois so: „Das sind Kinder, die hyperaktiv sind, kein Spielverhalten haben und sich nicht mit einer Sache beschäftigen können.“ Die Kinder würden sich „wild und wirr“ verhalten – die Lösung der Eltern sei dann, sie wieder mit Bildschirm-Medien ruhigzustellen – ein Teufelskreis entsteht.

Startnachteil fürs Leben

Aber was bedeutet das nun für das spätere Leben dieser Kinder? Laut Psychiater Göttl haben diese „Bildschirm-Kinder“ einen eindeutigen Startnachteil: „Für die Sprachentwicklung gibt es zum Beispiel ein wichtiges Fenster in den ersten beiden Lebensjahren. Wenn Kinder in dieser Phase Bildschirmgebrauch statt Sprachentwicklung machen, kann das nicht mehr vollständig aufgeholt werden.“ Göttl vergleicht es mit Spitzensport: Wer zu spät im Leben beginnt, wird keine Spitzenleistungen mehr erzielen können. Laut Kinderärztin Grois brauchen diese Kinder Förderung in Form von Logopädie oder Ergotherapie – nur könne das Angebot den Bedarf nicht decken.

Und auch der soziale Faktor spielt eine Rolle: In Familien, die sozial schlechtergestellt sind, haben betroffene Kinder noch weniger Möglichkeiten, die Defizite wieder aufzuholen.