"Wir haben eine gesamte Gesellschaft auf dem Prinzip der Lieblosigkeit gebaut“, heißt es an einer zentralen Stelle in Ihrem neuen Buch. Übrig bleibt ein Bild einer Gesellschaft, deren Einzelteile in und an sich zerbrechen und am Ende auch die Gesellschaft auseinanderbricht. Sehr positiv klingt das nicht.
Martina Leibovici-Mühlberger: Ich möchte aufrütteln. Wir haben in unserer Gesellschaft einen Liebesbegriff geschaffen, der in erster Linie aus einem Mangel aus unserer frühen Kindheit resultiert – nämlich dem Mangel, nicht vollständig angenommen worden zu sein, sondern nur konditional. Das spiegelt sich in der Erziehung wider: „Wenn Du brav bist oder dies und das erreichst, dann hat dich die Mama, dann hat dich der Papa lieb, dann bist Du ein gutes Kind.“ Nur jemand, der entspricht, verdient es also, geliebt zu werden. In Beziehungen kommt es dann zur Angst, nicht zu genügen und nicht liebenswert zu sein. Das führt zu Eifersucht, Kontrollzwängen und Machtspielen, um die Verlustängste niederzuhalten. Es ist diese konditionale Form der Liebe, die wir unserer Gesellschaft aufgesetzt haben. Mit echter Liebe aber hat das alles nicht wirklich zu tun.

Wie geht echte Liebe?
Martina Leibovici-Mühlberger: Die tatsächliche Liebe wäre eine rein annehmende Liebe, die den Menschen befähigt, ein Ganzer zu werden. Ohne der Urangst des Verstoßenwerdens, sondern mit Urvertrauen, mit dem man sich in der Welt geborgen fühlt und davon ausgeht, dass man andere trifft, die einen auch wollen, mit denen man gut leben kann. So ein Mensch braucht aber nichts von den anderen. Er braucht auch keine Kontroll-App am Handy, um den anderen zu überwachen oder eifersüchtig zu sein. Ich möchte mit dem Buch Menschen hinbewegen, schon ihren Kindern die annehmende Form der Liebe zu vermitteln.

Martina Leibovici-Mühlberger
Martina Leibovici-Mühlberger © APA/HANS PUNZ (HANS PUNZ)



Was läuft falsch in unserer Beziehungswelt?
Martina Leibovici-Mühlberger: In der Gesellschaft gibt es zunehmende Tendenzen zu einer machtvollen und aggressiven Kontrollausübung im Beziehungsleben.

Warum?
Martina Leibovici-Mühlberger: Weil in den letzten Jahrzehnten das Patriarchat stark demontiert wurde. Aber nicht in einer kooperierenden Form von Feminismus, sondern einer aggressiven. Das hat zu einer Gegenbewegung geführt, in der Kontrollfantasien, vor allem in der Sexualität, noch extremer ausgelebt werden. Die Gewalt an Frauen – Stichwort Femizide – ist ein Zeichen dafür, dass im tiefen Gebälk unserer Gesellschaft sehr problematische Auseinandersetzungen mit dem Liebesbegriff laufen. Auf der anderen Seite soll oben alles himmelblau, rosa, wölkchenartig und Disneyland sein.

Fehlt es als Basis an Selbstliebe und der Courage, die eigene Verletzlichkeit in Kauf zu nehmen?
Martina Leibovici-Mühlberger: Um genau das geht es. Nur der Mensch, der Annahme erlebt hat, liebt sich automatisch selbst. Wenn ich Liebe zurückgespiegelt bekomme – unabhängig von der Leistung, die ich biete, sondern mit dem Signal, „Es geht um Dich!“ –, dann habe ich auch die Courage, mich in Gefühlen zu offenbaren und auf den anderen zuzugehen. Über das Nichtfunktionieren von Beziehungen wird es offenkundig, dass ich selbst keine Courage habe und selbst nicht lieben kann. Das ist dann das, was wir in der Therapie versuchen, mühselig nachzubauen.

Ist unserer Gesellschaft eine intakte Freundschaftskultur als Reflexionsspiegel abhandengekommen?
Martina Leibovici-Mühlberger: Ja, weil ein Weiterreflexieren nicht ja nicht nur im therapeutischen Kontext möglich sein soll, sondern eigentlich Aufgabe des wirklichen Freundeskreises wäre. Und ich meine damit nicht jene Freunde, die nur als Echokammer dienen, sondern die auch die Fähigkeit haben, kritisch zu sein.



Wenn die Bereitschaft fehlt, das eigene Leben zu umarmen tut man sich wohl auch schwer, den anderen zu umarmen. Und wenn sich dann Menschen umarmen, die nicht in das tradierte Grundmuster passen, scheint die Gesellschaft noch überforderter. Tun wir uns deshalb so schwer, andere Formen von Liebesglück zu akzeptieren – Stichwort LGBTQ?
Martina Leibovici-Mühlberger: Ja. Es sprengt das Gummiband des Vorstellbaren in uns, weil wir in unserem eigenen Liebesbegriff so unsicher sind.

Warum ist eine belastbare Liebe so wichtig?
Martina Leibovici-Mühlberger: Die Liebe ist das Bindemittel des sozialen Körpers – nicht nur die Liebe zwischen den Geschlechtern, sondern auch die Liebe in Form von Achtsamkeit. Es geht um das soziale Miteinander und nicht ein mechanistisch-reduktionistisches Weltbild, das einen auf einen Faktor und eine Nummer reduziert und zu einer verwaltbaren Biomasse macht.

Ist es so schlimm?
Martina Leibovici-Mühlberger: Wir stehen als Gesellschaft an einer Wegscheide – auch durch Covid, weil da Mechanismen, die den Menschen auf eine Verwaltungsgröße reduzieren, unser ganz großes Thema sind. Als Mensch ist man nur noch Träger eines QR-Codes.

Trauen Sie der Gesellschaft noch eine Wende ins Positive zu?
Martina Leibovici-Mühlberger: Ja. Vielleicht bin ich ein unerschütterlicher Optimist, aber ich bin im Grundberuf Gynäkologin und war über eineinhalb Jahrzehnte bei vielen Geburten dabei – und ich habe kein einziges böses Baby gesehen. Jedes Kind, das geboren wurde, hat die Nähe und die Brust der Mutter gesucht und in dem Moment des Hautkontakts ist jedes Kind ruhig geworden und entspannt. Der Mensch in seiner Grundanlage ist also ein radikal soziales Wesen und will ein Miteinander. Ich vertraue darauf, dass sich diese Spezies dorthin entwickelt und sehe auch Anzeichen dafür. Die ältere Generation ist noch total materialistisch erzogen worden. Kein Wunder, die Eltern kamen aus dem Wiederaufbau nach dem Krieg.

Die jüngere Generation heute sieht das anders?
Martina Leibovici-Mühlberger: Ja. Das Sein kommt mehr in den Vordergrund gegenüber dem Haben. Die Frage ist, ob diese Entwicklung rasch genug läuft, weil der Gegenpol der Neoliberalismus und technokratische Materialismus ist, der in eine Kontrollgesellschaft der Algorithmen mündet.