Meine Kindheit in Laa/Thaya war eine weitgehend freizügige. Ich war sicher nicht das, was man sich üblicherweise unter einem Einzelkind vorstellt. Erstens hatte ich einen Bruder, der nur eine halbe Stunde gelebt hat, zweitens war mein Vater sehr sozial engagiert – das habe ich von ihm – er hat immer armen Kindern kostenlos Nachhilfe gegeben. Bei uns waren also immer Kinder im Haus. Und ich bin auf dem Land aufgewachsen, war also häufig irgendwo in der Wildnis strawanzen. Ich bin zwar ziemlich frei aufgewachsen, aber streng. Dass ich sehr diszipliniert bin, verdanke ich sicher dieser Strenge. Meine Eltern waren beide keine besonders liebevollen Menschen. Das hängt sicher damit zusammen, dass der Vater meiner Mutter am ersten Tag des Ersten Weltkriegs gefallen ist. Meine Großmutter konnte ihre zwei Töchter als Zitherlehrerin nicht erhalten und ging als Hausdame zu einem Baron, wodurch meine Mutter eine sehr gediegene Ausbildung erhielt. Sie war nicht nur Volksschullehrerin, sondern auch ausgebildete Pianistin. Ich saß immer bei ihr unter dem Flügel und bin heute noch ganz wild auf Klaviermusik. Meine Mutter konnte auch dichten und zeichnen, sie war ein sehr begabter, inspirierter Mensch.

Mein Vater war legendär: Er war Deutsch- und Englisch-Professor und konnte insgesamt 27 Sprachen. Mein Vater hat bis zu seinem Tod noch Sprachen gelernt, einfach weil es ihn interessiert hat. Diese Disziplin und das Interesse an Sprachen habe ich von ihm.
Wir waren ein sehr intellektueller, künstlerischer Haushalt. Ich bin da sehr gefördert worden. Wir hatten auch fast jeden Mittwoch Gäste: Ärzte, Professoren, Künstler und Intellektuelle gingen bei uns ein uns aus.
Ich habe immer gern gelernt, weil bei uns daheim viel gelesen und diskutiert wurde. Mein Vater war ein Polyhistor – dass ich heute eine 20.000-Bücher-Bibliothek habe, verdanke ich zur Hälfte ihm, eine Hälfte habe ich von ihm geerbt.

Rotraud Perner mit ihren Eltern
Rotraud Perner mit ihren Eltern © Perner

Eine Familie im eigentlichen Sinn waren wir nie, weil meine Eltern keinen großen Familiensinn hatten. Sie waren mit ihren eigenen Geschwistern zerstritten: Meine Eltern hatten beide Schwestern, die sehr eifersüchtig, neidig, intrigant und boshaft waren. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich immer sehr für Mediation und Konfliktlösung in Familien eingesetzt habe – weil ich weiß, wie unnötig solche Konflikte sind. Dass mein Vater immer wollte, dass ich männlich sozialisiert werde, hat sicher damit zu tun, dass ihm die eigene Schwester so auf die Nerven gegangen ist.

Dass ich in einem Knabengymnasium maturierte, liegt auch an meinem Vater. Er meinte, dass ich im Mädchengymnasium falsche Dinge lerne. In der Knabenschule war ich fast immer das einzige Mädchen, und als Tochter des Direktors hatte ich es hier sicher doppelt so schwer wie die anderen, weil sich keiner der Lehrer dem Vorwurf aussetzen wollte, er würde mich bevorzugen. Das war für mich aber nie ein Thema. In dieser Schule wurde uns vermittelt, dass uns die ganze Welt offensteht, dass wir alle Karriereschritte machen können. Was für Mädchen in der Parallelschule drüben wichtig war, war mir nicht wichtig. Ich habe zwar manchmal darüber gestaunt, fühlte mich hin und wieder auch benachteiligt, weil die Mädchen so kokettieren konnten, aber das war nicht meine Welt. Meine Mutter hat damals schon Simone de Beauvoir gelesen – es war klar, dass ich studieren werde.

Mein Vater wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete und Mittelschulprofessorin werde, am besten unter seiner Kontrolle. Als ich mich gegen diese Karrierevorstellungen wehrte, kam es zum großen Streit – mein Vater schmiss mich raus und meinte, er wolle mich nicht mehr sehen. Ich habe mich daraufhin selbst organisiert und hatte binnen eines Tages einen Job und eine Wohnung in Wien. Mit meinen Stenografie- und Sprachkenntnissen hatte ich sofort eine Stelle als Schreibkraft im Außenministerium.

Dass ich nicht bettelnd wieder zu Hause ankam, hat meinem Vater so imponiert, dass er mich schließlich wieder gnädig aufnahm. Für mich war das aber prägend, ich hatte kein Vertrauen mehr zu ihm. Ich wählte also Jus als Studium, weil das in Abendkursen neben dem Beruf machbar war.

Rotraud Perner bei der Hochzeit mit dem Journalisten Reinhold Perner 1968
Rotraud Perner bei der Hochzeit mit dem Journalisten Reinhold Perner 1968 © Perner

Meinen Mann, einen Journalisten, habe ich 1968 kennengelernt, durch Zufall. Mein ganzes Leben besteht aus aneinandergereihten Zufällen. Ich plane nicht, die Dinge ergeben sich. Allerdings habe ich auch ein gutes Gespür dafür, ob aus einem Vorhaben etwas wird oder nicht. Ich kann gut loslassen, das ist gar kein Problem für mich.

Ich habe meinen Mann bei einem Studentenfest kennengelernt. Er hatte einen fürchterlichen Ruf. Sein Spitzname war Haifisch, weil ihm die Frauen erfolgreich in Scharen nachgerannt sind. Keiner verstand, warum er so auf mich stand. Er wollte mich unbedingt heiraten. Im Februar haben wir uns zum ersten Mal getroffen – im Oktober haben wir nach einem heftigen, dynamischen Auf und Ab geheiratet. Es hat mir sicher geschmeichelt, dass der Mann, dem die Frauen so nachrannten, ausgerechnet auf mich stand. Wesentlich war aber: Ich konnte mit ihm über Dinge reden, über die ich sonst mit niemandem sprechen konnte, weil wir dieselben Bücher gelesen haben. Wir waren immer auf Augenhöhe. Ich sehe nicht zu Männern hinauf. Das ist der Vorteil einer Knabenschule: Wenn man erlebt, wie Buben an der Tafel zittern und beben und unter Stress Erektionen haben – da hast du einen anderen Blickwinkel. Ich kann mich ganz anders in Männer einfühlen, weil ich sie in solchen Situationen erlebt habe. Ich habe ein anderes Verständnis von Männern – das war sicher auch eine der Belastungen unserer Ehe.

Viel später einmal habe ich meinem Mann die Frage gestellt, was ihm damals so gut an mir gefallen hat, dass er sich mich ausgesucht hat. Er sagte: „Du warst so ordentlich, auf dich kann man sich verlassen.“ Er wusste, ich würde sein Chaos strukturieren, und das tat ich dann auch.

Als ich später dahinterkam, dass er ein Doppelleben führte, als das erste außereheliche Kind auftauchte, war es natürlich ein Schock und hat wehgetan, aber ich bin so ein Stehaufweiberl, heute würde man Resilienz dazu sagen. Ich sagte: „Setzen wir uns zusammen und reden wir, was wir tun könnten.“

Rotraud A. Perner im Kreise ihrer Familie - mit Kindern und Stiefkindern
Rotraud A. Perner im Kreise ihrer Familie - mit Kindern und Stiefkindern © Perner

Dass diese Ehe rund 40 Jahre gehalten hat, bis mein Mann 2009 gestorben ist – ich denke, das liegt daran, dass ich eine Expertin in Krisenbewältigung geworden bin, beginnend mit dem Konflikt mit meinem Vater, dem nach meiner Matura, und in sehr vielen unterschiedlichen Gewalterlebnissen, auch im Beruf und in der Politik, in der ich ja auch tätig war – da waren die Ehekrisen vergleichsweise harmlos. So etwas bespricht man ehrlich und diszipliniert und bringt es in Ordnung.

Wir hatten natürlich Marathongespräche, auch eine Trennung stand im Raum. Schließlich sagte ich meinem Mann, dass es mir wichtig ist, wie er sich benimmt, wenn er bei mir ist – was er sonst macht, ist ohnehin nicht unter meiner Kontrolle. Innerhalb unserer Ehe war mein Mann auch ein vorbildlicher Ehemann und Vater. Er hatte bei mir auch den Freiraum, sein Vatersein voll auszuleben. Ich war ja berufstätig, auch in der Zeit meiner Karenzen.

Ich weiß nicht, wie sich das alles damals ausgegangen ist: Beruf, Ausbildungen, Kinder und politisches Engagement. Aber irgendwie ist es sich ausgegangen. Mein Mann konnte sich die Arbeit als Journalist und Spin-Doctor im Rathaus auch gut einteilen. Als er mir 1981 sagte, dass es noch ein außereheliches Kind und noch eine Frau gibt, hat es mir aber gereicht und ich habe ihn hinausgeschmissen. Das war Krise total.

Es waren schließlich ökonomische Gründe, warum ich mich entschieden habe, zu bleiben – es hat ja alles mir gehört und ich wollte es meinen Söhnen erhalten – und eine neue Basis zu suchen. Alle haben uns damals zur Scheidung geraten. Wir haben aber gesehen, wie viel uns verbindet. Dann die zweite gleiche Krise, die erste war anscheinend nicht tief genug. Auf den Fotos von unserer kirchlichen Heirat 1982 (die hat sich mein Mann eingebildet!) sieht man an unseren Gesichtern auch, dass wir durch eine Krise gegangen sind. Um eine Metapher zu verwenden: wie Pflanzen nach einem Gewittersturm, leicht geknickt, der Regen perlt noch an ihnen hinunter, aber alles ist sehr gereinigt.

Als Mutter habe ich immer versucht, zu spüren, was gerade anfällt. Meine Kinder sagen, dass ich sehr vorbildlich war als Mutter. Ich bin heiter und großzügig und erkläre unheimlich viel. Das habe ich von meiner Mutter gelernt, die hat auch immer alles kommentiert, was sie gerade gemacht hat. Ich habe denken gelernt durch Mitdenken, wenn meine Mutter kommentiert hat. Meine Mutter hat mir auch nie vorgeschrieben, wie ich etwas machen soll, sondern nur so nebenbei hingesagt, wie und warum sie es macht.

Bei meinen Söhnen war mir wichtig, dass sie Durchblick haben und sich trauen, die Wahrheit zu sagen, möglichst so geschickt, dass sie sich nicht selber damit schaden – das ist eine Frage der Sprache. Und sie sollten sich selbst verwirklichen dürfen. Das habe ich auch meiner Stieftochter zu vermitteln versucht. Ich liebe sie heiß – sie ist so, wie ich mir eine Tochter immer gewünscht habe. Mit meinem zweiten Stiefsohn hat einer meiner Söhne Kontakt; und der erste Stiefsohn – er stammt aus der ersten Ehe meines Mannes – ist der Rechtsanwalt unserer Familie.