Im Sommer stellen sich jedes Jahr aufs Neue viele die Frage: Was ist modisch „erlaubt“? Wer gibt das Regelwerk vor?

Ina Köhler: Das Regelwerk ist nicht mehr so streng, wie es einmal war. Im Berufsleben mit Kundenkontakt kann in der Regel der Arbeitgeber einen Dresscode festlegen. Was man in der Freizeit trägt, das entwickelt sich eher evolutionär. Der Dresscode wird hier eher durch Trends, Vorbilder oder eine Art gemeinsamen Common Sense, der aber auch immer wieder durch die jeweilige Gesellschaft neu ausdiskutiert wird, vorgegeben.

Unter #JeKiffeMonDecollete - „Ich liebe mein Dekolleté“ - machen Frauen gegen „Kleiderpolizei“ und sexistische Sprüche mobil, indem sie Fotos ihres Ausschnitts posten. Sinnvoll oder nur ein Hype in sozialen Medien?

Ich glaube schon, dass Proteste via Social Media langfristig etwas bringen. Man kann das an der Bewegung rund um #MeToo sehen. Hier geht es zwar primär nicht um Bekleidung, sondern um Frauenrollen und sexuelle Übergriffe. Es war aber ein starkes, internationales Hashtag. Damit haben Frauen ihr Rollenverständnis neu definiert und das hat auch Folgen.

Welche?

Gegen Hollywoodproduzent Harvey Weinstein wurde ein Prozess angestrengt, zahlreiche Schauspieler oder Personen des öffentlichen Lebens, die übergriffig geworden waren, wurden sanktioniert. In Unternehmen und Medienanstalten wurden Dinge öffentlich gemacht, die jahrzehntelang stillschweigend unter den Teppich gekehrt worden waren. Das hat wirklich etwas bewirkt. Soziale Medien haben eine unglaubliche Macht und können wahre Lawinen im Positiven wie im Negativen lostreten. Das bezieht sich aber nicht nur auf Mode, sondern auch auf andere gesellschaftspolitische Themen. Mode hat aber immer eine gesellschaftliche Komponente.

Vor allem Frauen werden gerne für ihren modischen Auftritt kritisiert. In der Folge setzen viele auf eine Art „Einheitskleidung“. Welche Folge hat das für Frauen?

Hier sehe ich zwei Aspekte. Der eine hat mit dem Rollenwandel von Frauen zu tun. Sie waren in der Vergangenheit nicht unbedingt für Führungspositionen vorgesehen, für sie war demnach kein „Führungs-Dresscode“ festgesetzt. Dieses Vakuum füllen viele Frauen mit einem Kleidungsstil, der sich an dem männlichen Kleidungsstil orientiert, aber durchaus eigene Akzente setzt. Das kann man sehr gut bei der deutschen Kanzlerin sehen. Sie wurde früher für ihren Kleidungsstil kritisiert und viel stärker über ihre Äußerlichkeit definiert als ihr männlicher Gegenpart. Angela Merkel hat das mit einer Art Uniform für sich geregelt. Sie trägt ihren Drei-Knopf-Blazer in einem guten, für sie passenden Schnitt, den sie immer in unterschiedlichen Farben variiert. Er ist für sie zum Erkennungsmerkmal geworden.

Fällt aus der männlich schwarz-dunkelblauen Reihe: Angela Merkel
Fällt aus der männlich schwarz-dunkelblauen Reihe: Angela Merkel © Tim Brakemeier

Mode als Markenzeichen?

Man kann das sehr gut bei Treffen von Regierungschefs sehen. Da war sie oft nicht nur die einzige Frau, sondern auch die Einzige, die nicht Grau, Dunkelblau oder Schwarz trug, sondern etwas Rotes oder Grünes. Sie stach förmlich heraus. Das hat sie als Marke gestärkt. Mittlerweile tun es ihr andere Politikerinnen nach, Christine Lagarde oder Theresa May. Sie setzen auch auf diese Art Uniform, die zwar nicht unbedingt weiblich ist, die aber in diesem Kontext von Macht, Sicherheit, Seriosität auch wieder passend wird.

2018 gab es eine Protestaktion von Männern - sie trugen bei der Arbeit Kleider, weil ihnen Shorts verboten wurden. Sieht man in diesen Initiativen, dass sich Männer immer mehr für Mode als Ausdrucksform interessieren?

Das war zwar, gerade bei diesem Vorfall, vermutlich nicht die Grundidee, aber es ist schon richtig, dass sich der männliche Mainstream wesentlich mehr für Mode interessiert und dass sich Männer auch trauen, andere Farben zu tragen und zu experimentieren. In der Männermode hat sich viel getan.

Warum verunsichert uns Mode noch immer so sehr?

Sie verunsichert uns heute möglicherweise noch mehr als früher, wo wir klarere Richtlinien hatten. Es wird für jeden schwieriger, sich aus dieser Fülle an Informationen das herauszusuchen, was für ihn gültig ist. Diese Verunsicherung beruht auf einer stärkeren Individualisierung in der Gesellschaft, die sich auch in der Mode zeigt. Dazu kommt die Aufhebung starrer Regelwerke. Für einige Berufsgruppen gelten sie allerdings noch. Bei Berufsgruppen, in denen es um Seriosität und Außenwirkung geht, neigt man dazu, den Arbeitnehmern ein bestimmtes Regelwerk vorzugeben: bei Banken, Versicherungen, im Gesundheitswesen.

Mode gilt heutzutage immer noch als oberflächlich. Wird sie als individuelle Ausdrucksform unterschätzt?

Mode hat einen sehr oberflächlichen Ruf, weil sie Oberfläche zeigt. Andererseits ist es aber so, dass kein Mensch außerhalb der Mode steht.

Inwiefern?

Selbst, wenn man etwas Unmodisches anzieht, setzt man dadurch ein Statement. Man kann eine bestimmte Lebens- und Grundhaltung anhand der Kleidung ablesen. In deutschsprachigen Ländern wird dieses Thema viel stärker unterschätzt als in den angelsächsischen Ländern oder in Frankreich. Dort hat die Beschäftigung mit dem Thema Mode als Kulturphänomen eine viel längere Tradition und auch eine andere Wertschätzung. Mode ist eng verbunden mit anderen Kultur- und Kunstthemen wie Musik, Literatur, Film. Es ist ein bisschen wie die Diskussion früher mit U- und E-Musik. Unterhaltungsmusik wurde lange unterschätzt. Man sieht heute, was mehr gehört wird. Glücklicherweise wird mehr über Mode diskutiert und berichtet - oft auch viel seriöser und sachkundiger als früher.

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