Herr Trojanow, denken Sie oft an Bulgarien?
ILIJA TROJANOW:
Ja, leider zu oft.

Warum sagen Sie „leider“?
Weil es kein angenehmes, beglückendes, erhebendes Nachdenken ist, sondern ein bedrücktes und besorgtes.

Was bedrückt Sie, wenn Sie an Ihr Geburtsland denken?
Bulgarien ist eine triste Geschichte verfehlter Chancen. Anstatt dass nach 1989 eine gerechtere und freiere Gesellschaft erkämpft worden wäre, setzte sich die alte kommunistische Elite durch, indem sie sich in eine kapitalistische Oligarchie verwandelte, die unbegrenzten Zugriff auf das gesamte Volksvermögen hatte. Das Land bleibt trotz Zugehörigkeit zur EU eines der Armenhäuser Europas – als mein Text-Bild-Band „Wo Orpheus begraben liegt“ vor einigen Jahren erschien, waren viele Leute schockiert, dass es derart desolate Szenen und Orte in der Europäischen Union gibt.

Was sind die Folgen?
Die immense Korruption im Land und eine bananenrepublikanische Politik. Das Volk stimmt mit den Füßen ab, in den letzten dreißig Jahren ist die Bevölkerung des Landes laut offiziellen Angaben um mehr als zwei Millionen Menschen geschrumpft! Überall, wo ich in Westeuropa hinkomme, treffe ich auf gebildete Leute aus Bulgarien, die gezwungen waren, wegen fehlender Chancen das Land zu verlassen.

Wie macht sich das im Alltag der Bulgaren bemerkbar?
Neben der erwähnten Armut herrschen Hoffnungslosigkeit, Frustration und Zynismus. Und Rassismus. Neulich wurde ja das Fußball-Qualifikationsspiel gegen England fast abgebrochen wegen wiederholter, primitiver Schreie, wann immer ein dunkelhäutiger Spieler am Ball war.
Wie schwer fällt es Ihnen da, in Ihr Geburtsland heimzukehren?
Es ist keine Heimkehr, sondern eine Fremdkehr.

Ein starkes Wort. Ist die Entfremdung wirklich so groß?
Ja, nicht nur bei mir, sondern bei fast allen Menschen mit ähnlicher Biografie, die ich kenne. Der Einfluss des Herkunftslandes auf die eigene Verfasstheit wird schwer überschätzt. Das ist eine Folge einer nationalistischen Denkweise. Die Weggegangenen und die Daheimgebliebenen haben sich – abgesehen vom Austausch von Vorwürfen – häufig wenig zu sagen.

Was werfen die einen Bulgaren den anderen genau vor?
Unverständnis, sich aus dem Staub gemacht zu haben einerseits. Alles hingenommen zu haben andererseits.

Liegt die eigentliche Tragik nicht darin, dass in gewisser Weise wohl beides zutrifft?
Ja, vielleicht, es ist halt so …

„Bulgarien bleibt trotz EU-Zugehörigkeit eines der Armenhäuser Europas“
„Bulgarien bleibt trotz EU-Zugehörigkeit eines der Armenhäuser Europas“ © (c) Getty Images (Sean Gallup)

Ist Ihr vor vier Jahren erschienener Roman „Macht und Widerstand“ auch eine Art Versuch, diese tiefe Kluft zu überwinden?
Der Roman ist der Versuch, eine exemplarische Geschichte über die Bedingungen von individueller Widerständigkeit und staatstragender Konformität zu erzählen, anhand der bulgarischen Historie von Kommunismus und Postkommunismus.

Wollten Sie an die Zeit vor und nach 1989 erinnern, um den Unbekannten eine Stimme zu geben, die Widerstand gegen die kommunistische Diktatur leisteten?
Literatur ist für mich immer ein Mittel, den Nichtgehörten eine Stimme zu verleihen, die Übersehenen sichtbar zu machen. Aufgrund der konkreten politischen Ereignisse sind die Helden des bulgarischen Widerstands unbesungen geblieben, viele anonym gestorben, jetzt schon vergessen. In Zeiten des neoliberalen Egowahns sind aber solche Geschichten wichtig, weil sie eine andere Auffassung von gesellschaftlicher Verankerung aufzeigen.

Wie manifestierte sich der Widerstand gegen das Regime?
Wie Widerstand sich stets und überall manifestiert: All das tun, was der Staat verbietet: Organisationen bilden, Pamphlete drucken und verteilen, sich verweigern, das Wort ergreifen oder manchmal sogar nur Witze erzählen, denn die Macht ist allergisch gegen Satire und Humor.

Wie ging das Regime mit diesen Widerständigen um? War es in Bulgarien besonders brutal?
Das bulgarische kommunistische Regime reagierte mit Arbeitslager, Gefängnis, in den ersten Jahren nach der kommunistischen Machtergreifung auch Stante-pede-Erschießungen. Vor allem aber gab es einen Geheimdienst. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen sind in den Jahren zwischen 1944 und 1989 aktenkundig geworden, als Informanten und Zuträger, informelle Mitarbeiter, Agenten, erpressbare Opfer und verängstigte Familienmitglieder.

Sind die Auswirkungen dieser Repression bis heute im Verhalten vieler Bulgaren spürbar?
Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall haben Menschen noch viele Jahre nach 1989 zu flüstern begonnen, wenn sie etwas Kritisches von sich gaben. Und ziviler Mut und gesellschaftspolitisches Engagement sind wenig ausgeprägt, aber das liegt auch an der Durchherrschung der Gesellschaft durch die Oligarchie, auch „rote Mafia“ genannt, die fast alles im Land kontrolliert, so auch die Medien, abgesehen von einigen mutigen kleinen Zeitungen und Webseiten, die aber nicht annähernd den Einfluss der unkritischen Boulevardpresse haben.

Gibt es in Bulgarien dennoch auch ermutigende Zeichen?
Das müssen Sie jemanden fragen, der in Bulgarien lebt. Aus meiner Sicht ist die Zeit nationaler Hoffnungen vorbei, alle Probleme der Menschheit lassen sich nur global lösen. Eines scheint sich erschöpft zu haben: der Glaube an einen Erlöser, egal ob es sich nun um den Westen, den ehemaligen König, das Kapital, die Demokraten, die Nato oder die EU handelt. Wenn die Illusionen überwunden sind, kann sich der politische Blick klarer ausrichten.

Trägt der Westen Mitschuld am Lauf, den die Dinge nach 1989 in Bulgarien genommen haben?
Und wie: die faulen Kompromisse mit der Nomenklatura, das Auferlegen der Schocktherapie, die Aufnahme in die Europäische Union, ohne auf das Einhalten strenger Standards und Richtlinien vor allem im Bereich der Korruption, des Rechtsstaates, der demokratischen Rahmenbedingungen zu bestehen. Trunken von den eigenen Allmachtsfantasien, war der „Westen“ nie an einer wirklichen, umfassenden und tief greifenden Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft in Bulgarien interessiert, sondern lediglich an den Märkten, an billigen Arbeitskräften. Aber die Geschichte vergisst nie, die Rechnung zu stellen.

Wie könnte diese Rechnung denn aussehen?
Die Zeche sind Populismus, Rassismus, Korruption, eine besondere Form der Refeudalisierung durch eine allmächtige Oligarchie, der Abbau demokratischer Strukturen und vieles mehr. Die Demokratiedefizite im Osten Europas lassen sich nicht übersehen, sie infizieren die gemeinschaftlichen Strukturen und Haltungen. Insofern ist eine radikale Reform von Gesellschaften wie der bulgarischen eine Voraussetzung für ein wirklich demokratisches und gerechtes Europa.