Das Jahr 1989 hat sich in unser Gedächtnis als ein Jahr der Revolutionen in Osteuropa eingebrannt, die nicht überall gleichzeitig erfolgten, doch am Ende zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems in diesem Teil der Welt führten. Ein Jahr der Wunder, wie der polnische Dissident Adam Michnik es formulierte. Bemerkenswert erscheint, dass diese Revolutionen, falls man wirklich von solchen sprechen darf, weitgehend unblutig erfolgten. Die kommunistischen Regime, die viele von uns für unüberwindlich hielten, gaben die Macht erstaunlich rasch und leise ab, ohne die gefürchteten Sicherheitskräfte oder das Militär einzusetzen, die ihnen damals noch zur Verfügung standen.

Der Fall der Mauer in Berlin ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Samtene Revolution in Prag oder die freie Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc in Polen, die in hartnäckigen Streiks die Machthaber an den runden Tisch in Danzig zwang, der zu den ersten freien Wahlen führte, der Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes.

Für mich hat das Jahr 1989 noch eine ganz persönliche Dimension. Ich durfte erstmals nach neun Jahren wieder nach Polen einreisen. Als 1980 die ersten Streiks an der Ostseeküste ausbrachen, flog ich nach Polen, um für den „Spiegel“ darüber zu berichten. Am Warschauer Flughafen wurde ich festgesetzt und zur Persona non grata erklärt. „Sie haben das Land unverzüglich zu verlassen!“ Erst 1989 wurde ich von den damals sich immer noch an die Macht klammernden Kommunisten von der „schwarzen Liste“ gestrichen.

Noch eine Erinnerung an 1989: Im November kam der deutsche Kanzler Helmut Kohl nach Warschau, um eine Aussöhnung mit dem polnischen Nachbarn, nach dem Vorbild der deutsch-französischen Beziehungen, herbeizuführen. In Polen war das mit der Hoffnung auf üppige deutsche Kredite verbunden, die helfen sollten, das von den Kommunisten an den Rand des Abgrunds geführte Land zu sanieren. Am Abend des 9. November wartete ich mit Journalistenkollegen im Hotel Marriott auf Kohl und seine Delegation, um etwas über den Fortgang der Gespräche zu erfahren. Kurz nach Kohls Eintreffen ging ein Raunen durch den Saal: In Berlin war, für die meisten unerwartet, die Mauer gefallen.

Ich sehe noch vor mir, wie der massige Kanzler an der Spitze seiner Begleiter durch den Saal stampfte. Möglichst rasch retour nach Berlin, wo jetzt Geschichte geschrieben wurde. Ein polnischer Politiker sagte pessimistisch zu mir: Da gehen unsere Kredite dahin.

Scheinbare Rückkehr zur Normalität

Rückblickend schien der Pessimismus übertrieben. Polen nahm in der Folge wirtschaftlich eine rasante Entwicklung, während der Beitritt zur Nato und zur Europäischen Union die Rückkehr zur Normalität nach außen markierte, wie es damals hieß. Vor allem die Mitgliedschaft in der EU wurde als Chance zur radikalen Modernisierung des Landes genützt. Nicht weniger wichtig waren die Etablierung demokratischer Strukturen und der Aufbau einer liberalen Zivilgesellschaft.

Doch das Bild war nicht einheitlich, schon damals zeichneten sich im liberalen Lager Spannungen ab, die sich in den letzten Jahren radikal verschärft haben. Ich erinnere mich an eine Diskussion im Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) zehn Jahre nach 1989, an der wichtige Proponenten des Revolutionsjahres teilnahmen. Der spätere ungarische Autokrat Viktor Orbán, ursprünglich ein glühender Dissident und Freiheitskämpfer, der im Juni 1989 mit seiner flammenden Rede bei der Wiederbeisetzung des 1956er-Revolutionärs Imre Nagy maßgeblich der liberalen Demokratie in seinem Land zum Durchbruch verhalf, überraschte die Anwesenden mit seiner Feststellung, 1989 sei für ihn nicht das erste Jahr der Freiheit, sondern das letzte Jahr der kommunistischen Diktatur, ein Jahr, das es endlich zu überwinden gelte. „Je weniger von ihm bleibt, desto besser.“

Für Orbán markierte nicht 1989 das Ende des Kommunismus, sondern 1990, das Jahr der ersten freien Parlamentswahlen, ohne Kompromisse mit den verhassten Kommunisten. Adam Michnik und Václav Havel, die ebenfalls am Podium saßen, widersprachen vehement. Viktor Orbán schien mit seiner radikalen Meinung, die jeden Kompromiss zum Verrat erklärte, allein dazustehen. Heute ist das anders. Ähnlich wie damals Orbán argumentieren die Vertreter der Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, in Polen, geführt von Jaroslaw Kaczynski, der wie Orbán 1989 auf der Seite der Revolutionäre stand. Sie bekämpfen mit sektiererischem Furor alles, was an damals erinnert, den Geist der Freiheit, die demokratischen Errungenschaften und ihre Vertreter. An sie wollen Kaczynski und seine Anhänger nicht mehr erinnert werden. Sie behaupten steif und fest, die Vertreter von 1989 hätten mit ihrer kompromissbereiten Haltung, die anfangs auf eine Teilung der Macht mit den Kommunisten hinauslief, die wahre antikommunistische Revolution verraten und müssten heute dafür vor Gericht gestellt werden.

Das politische Klima im Land ist vergiftet

Dabei stützen sie sich in ihrer Argumentation auf einen erhitzten Nationalismus und, damit einhergehend, eine rabiate Fremdenfeindlichkeit, die sich nicht nur gegen Flüchtlinge richtet, sondern gegen alles, was als fremd ausgemacht wird und im Verdacht steht, mit den wahren polnischen Werten, die heute im offiziellen Polen als unverzichtbare Identitätsmerkmale dienen, nicht übereinzustimmen. Da werden Verschwörungstheorien verbreitet, viele offen antisemitisch unterfüttert, und dazu greift eine fortschreitende Brutalisierung der Sprache um sich, die das Klima auf unerträgliche Weise vergiftet und fatale Folgen nach sich zieht. Ich denke dabei an die Ermordung des liberalen Danziger Bürgermeisters Pawel Adamowicz, aber auch an die sich häufenden Übergriffe gegen Ausländer, Schwule und Lesben und allgemein Menschen, die es wagen, andere Meinungen als die von PiS abgesegneten zu äußern.

Die Parallelen zu Wladimir Putins Politik in Russland sind, so wie bei Orbán, förmlich zu greifen. Während jedoch Viktor Orbán seine Sympathien für den neuen Zaren ganz offen zum Ausdruck bringt, ist das in Polen aus historischen Gründen nicht möglich. Trotzdem macht Kaczynski in vielem Anleihe beim großen östlichen Nachbarn, nicht zuletzt, was die Ressentiments gegen Europa betrifft, und spielt damit Putin in die Hände.

Trauerfeier für den ermordeten Bürgermeister von Danzig, Pawel Adamowicz
Trauerfeier für den ermordeten Bürgermeister von Danzig, Pawel Adamowicz © (c) LightRocket via Getty Images (SOPA Images)

Die daraus resultierende Spaltung der polnischen Gesellschaft konnte in den letzten Jahren nicht überbrückt werden, im Gegenteil, die Gräben sind heute tiefer als je zuvor. Kaczynski und seine Anhänger sehen sich als Retter Polens und ganz Europas, das sie angeblich als christliches Bollwerk vor zahlreichen Gefahren wie einer Islamisierung, aber auch der angeblichen Dekadenz des Westens, die die Gesellschaften zerfrisst, bewahren wollen. Polen, der Christus der Nationen, der durch sein Leiden die Erlösung, das heißt die Freiheit, bringt, war ein Bild, das aus der Zeit der polnischen Romantik stammt, als das Land von den europäischen Nachbarn geteilt und von den Landkarten getilgt wurde.

Kaczynski geht es um die Macht

Heute werden wieder ähnliche Töne angeschlagen, wobei es Kaczynski nicht so sehr um eine hochfliegende Mission geht, sondern um die Macht. Es geht um die Errichtung eines autoritären Regimes. Er und seine Anhänger kennen nur zwei Lager, die wahren, katholischen, patriotischen, das heißt nationalistischen Polen, die ihnen bedingungslos auf ihrem Weg folgen, und die anderen, die Feinde, die Verräter an der patriotischen Sache, mit denen es abzurechnen gilt.

Dass diese Politik bedeutet, die liberale Demokratie mit allen ihren Institutionen zu schwächen und am Ende zu zerschlagen und Europa zu spalten, wird von Kaczy(´n)ski gern in Kauf genommen, das ist ja in Wahrheit sein Ziel. Es liegt auch in unserer Verantwortung, zu verhindern, dass er und seinesgleichen dieses Ziel erreichen, denn das käme einer Zerstörung Europas, der europäischen Idee gleich, der wir uns verpflichtet fühlen.