Auf Budapests Elisabeth-Platz turnt eine Yoga-Gruppe, Fahrräder klappern daneben auf dem Fahrradweg vorbei. Bei Starbucks nehmen Baristas Bestellungen entgegen, die alle möglichen Sprachen können, nur nicht Ungarisch. Kein Wunder, die meisten Kunden sind Ausländer. Touristen natürlich. Budapest ist eine der meist besuchten Metropolen Europas, in keiner anderen Stadt der EU sind die Hotels so ausgelastet, aber auch viele der 90.000 Ausländer, die in Budapest wohnen.

Krabbelgruppen

All das war vor 30 Jahren, zur Zeit der Wende, noch nicht vorstellbar. Es gab keine Fahrräder auf den Straßen und keine Fahrradwege, keine Yoga-Gruppen, keinen Starbucks, und auch sonst keine Frühstückslokale. Heute gibt es zahlreiche, putzige kleine Cafés, etwa das “”Helló Anyu” (Hallo Mama) am Klauzál-Platz, wo junge Mütter frühstücken und ihre Babys sorglos krabbeln lassen können, umgeben von Spielzeug. Krabbelgruppen, das gab es früher ebenfalls nicht. Und auch die Luft roch anders als heute, nach Wartburgs und Trabants. Es gab zwar Ausländer, aber das waren russische Soldaten. Am Franziskaner-Platz hat ein neuer Lidl-Supermarkt aufgemacht. Lidl, Aldi, Spar, Tesco, Carrefour – Budapester kaufen in westeuropäischen, vor allem deutschen Supermärkten ein.

Gegenüber steht das altehrwürdige Kárpátiá-Restaurant, vor der Wende eine der besten Adressen und noch immer sehr beliebt. Im zweiten Stock des Gebäudes wohnt heute wie damals Géza Jeszenszky, Außenminister der ersten frei gewählten Regierung nach der Wende, und sinniert über Vergangenheit und Zukunft. Er wohne hier seit 1967, erzählt er, seit er heiratete – die Tochter einer Schwester seines früheren Lehrers József Antall. Antall wurde nach der Wende der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident. Zwei geräumige Zimmer, Büro und Salon, bis zur Zimmerdecke voller Bücher. In den Räumen daneben ist Kindergejauchze zu hören – zwei Enkelkinder sind da.

Widerstand zeigen

Jeszenszky war 1987 einer der 200 Gründer und außenpolitischer Sprecher des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF), das nach der Wende Regierungspartei wurde. „Wir haben uns das damals nicht vorstellen können”, sagt er. Er erinnert sich, wann er das erste Mal dachte, dass es vorbei sein könnte mit dem Kommunismus: Das war am 15. März des Jahres 1989. Die Kommunisten feierten erstmals 1971 den traditionellen Nationalfeiertag, mit einer Rede vor dem Nationalmuseum, erzählt er. „Aber viele Menschen gingen danach nicht nach Hause. Es war ihre Art, Widerstand zu zeigen.”

Wer das wagte, musste mit Bestrafung rechnen, nicht unbedingt mit Gefängnis, aber man konnte dafür als Schüler von der Schule fliegen, als Student von der Uni. Jeszenszky war mit Frau und Kind immer dabei. „Wir gingen mit Babywagen und taten so, als würden wir nur spazieren”, lächelt er. „Jedes Jahr gab es solche kleinere Protestkundgebungen nach der offiziellen Veranstaltung, und jedes Jahr gingen die Behörden dagegen vor”. Auch 1988 noch. Aber 1989 nicht mehr. „Wir zogen am berüchtigten Innenministerium vorbei, 100.000 Menschen – nichts passierte. Und dann zum Staatsfernsehen, wo wir forderten, es müsse das Fernsehen des Volkes sein. Damals dachte ich, wenn die so etwas zulassen, ist das Ende vielleicht doch nah.”

Aber selbst danach glaubten Jeszenszky und die meisten anderen im MDF noch nicht, dass sie die Kommunisten, die sich inzwischen in „Sozialisten” umbenannt hatten, ohne weiteres bezwingen könnten, selbst in freien Wahlen nicht. „Ministerpräsident Miklós Német war sehr beliebt”, erinnert sich Jeszenszky. „Eine Reihe von Regierungspolitikern genossen einen guten Ruf, unsere Namen kannte kaum jemand.“

Angst vor radikalem Umbruch

Nichts war damals unausweichlich. Parteichef Károly Grosz soll sogar einen „Putsch” erwogen haben, erzählt Jeszenszky. Um nach außen hin dennoch als „reformistisch” zu gelten, habe man geplant, ihm das Außenministerium anzutragen. Es gab einen Runden Tisch der Opposition, wo die verschiedenen neuen Gruppierungen ihre Positionen absteckten gegenüber der Regierung, und einen Runden Tisch dieser Gruppen mit der Staatspartei. „Die Regierung hoffte, einige von uns einbinden und so weiter machen zu können. Das hätte auch ihr Ansehen im Ausland gesteigert”, erinnert er sich. „Auch der Westen, vor allem Amerika, wäre zufrieden gewesen mit einem gemäßigten Reformkommunismus. Viele hatten heimlich Angst vor explosiven Entwicklungen in Osteuropa, wenn es dort zu einem radikalem Umbruch käme.”

Aber die Opposition blieb geschlossen und handelte freie Wahlen aus. József Antall, Jeszenszkys einstiger Klassenlehrer, wurde zur Galionsfigur der Demokraten. Sein Unterricht muss bemerkenswert gewesen sein, eines der Saatkörner, aus denen Jahre später die Wende hervorging. 1956 nahm Jeszenszkys Klasse am Ungarnaufstand teil, noch 1957 starteten sie eine Aktion, um still an die gescheiterte Revolution zu erinnern. Zur Strafe durften die meisten Schüler später nicht studieren. „Antall sagte uns, dass wir die Kommunisten derzeit nicht loswerden könnten, und der Westen kann es auch nicht. Aber dass uns niemand unsere Gedanken wegnehmen kann”, erinnert sich Jeszenszky. „Er warnte, dass wir nicht gegen Wände laufen sollten. Aber dass wir uns bereit halten sollten, für den Fall dass es noch einmal eine Chance geben würde wie 1956.”

Brisantes Picknick

Das Demokratische Forum (MDF) wuchs zu einer ernsten Kraft heran. Als es im August 1989 das Soproner Paneuropa-Picknick organisierte und dafür die Schirmherrschaft Otto Habsburgs gewann, hatte es bereits 40.000 Mitglieder. Das „Picknick”, bei dem mehr als 600 DDR-Bürger die Grenze nach Österreich durchbrachen, läutete das Ende der DDR ein, beschleunigte aber auch die Wende in Ungarn. Die Oppositionellen sahen sich Ungarns Gesetze genauer an und entdeckten, dass da auf dem Papier ein Recht auf Rückruf von Parlamentsabgeordneten durch deren Wähler bestand.

Das Demokratische Forum organisierte Unterschriftensammlungen und tatsächlich wurden in vier Wahlkreisen Neuwahlen abgehalten – alle gewann das MDF. „Früher hätten die Kommunisten so etwas mit Gewalt oder Schliche verhindert”, meint Jeszenszky. So aber begann er zu hoffen, dass das Demokratische Forum auch die ersten freien Parlamentswahlen gewinnen würde.

Und so geschah es dann auch. Aber so wie Jeszenszky sich diesen Erfolg lange nicht hatte vorstellen können, konnte er sich auch nicht vorstellen, wie die Sozialisten schon 1994 wieder an die Macht zurückkehren würden. „Der ungarische Kommunismus war nicht so hart wie anderswo, die Menschen litten weniger an Unterdrückung”, sagt er. „Was sie von der Wende erhofften war weniger Freiheit als Wohlstand”. Der aber stellte sich nicht ein.

Der Systemwechsel führte zu einer Wirtschaftskrise, und die Wähler wollten nun lieber an den Dingen festhalten, die sie am Kommunismus gemocht hatten – gratis Bildung, Kindergärten, Gesundheitssystem, sichere Arbeitsplätze, ausreichende Renten. Freiheit hatte man ja schon.

Es sind immer noch diese Themen, die die Politik bestimmen. Ungarn hat bis heute nicht aufgeschlossen zum Westen. Es ist einer der Gründe für den Erfolg von Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Politik, der Europäischen Union Kontra zu geben. Jeszenszky, der früh Orbáns Talent erkannte und vieles an ihm schätzt, kann das nicht ausstehen. Ungarn als schwarzes Schaf in EU und Nato, wo doch die Mitgliedschaft in beiden Organisationen die größten außenpolitischen Errungenschaften des Landes nach der Wende waren? Das findet Jeszenszky deprimierend.

„Ich war der Außenminister, der Ungarns Beitrittsantrag bei der EU einreichte, 1994”, sagt er. „Ungarns Platz ist im Westen ohne Wenn und Aber”. Orbáns Politik des Zugehens auf Russlands Präsident Wladimir Putin, seine Zusammenarbeit mit China, das findet er falsch und gefährlich. Seine Enkeltochter kommt ins Zimmer. Was wird die Zukunft ihr bringen? Was der nächste auf die Begegnung mit Jeszenszky folgende Tag bringt, ist immerhin klar – Putin kommt Orbán besuchen.