"Es ist 1996, meine Freundin ist weg und bräunt sich ...". Nein, im Gegensatz zu Fettes Brot hat diese auf einem Roman des US-Autors Harlan Coben basierende Geschichte wenig Fröhliches über die 90er zu erzählen. "Es war 1994. Der Sommer ging zu Ende wie die Kindheit", ist hier gleich zu Beginn von "Das Grab im Wald" (englisch: "The Woods") zu erfahren. Das Szenario: Ein Jugendcamp, natürlich mitten in einem Wald gelegen, als eigener Kosmos und mit allem, was es zum Erwachsenwerden braucht. Es werden polnische Lieder über die Freiheit gesungen, es wird gerangelt, es blüht die junge Liebe und Regeln sind auch da, um gebrochen zu werden.

Es ist, wie im Mystery-Thriller-Genre häufig, ein Spiel auf zwei schiefen Zeitebenen: Die Geschichte pendelt in geschickter Inszenierung zwischen 1994 und der Gegenwart, wobei jede Zeitebene ihre eigenen Geheimnisse und Geschichten hat. Stück für Stück ergibt sich aus den Puzzleteilen ein Bild, doch Obacht: Die nächste Täuschung wartet an der übernächsten Ecke. Im Mittelpunkt steht der stoische Paweł Kopiński (Grzegorz Damiecki), der einst ein junger Aufpasser am Camp war und heute Staatsanwalt ist. Seine Schwester war vor 26 Jahren auch dabei gewesen und eine von vier Jugendlichen, die plötzlich verschwanden. Zwei Leichen wurden später entdeckt, die anderen blieben verschollen. Der Staatsanwalt, der schon seine Mutter und seine Frau verloren hat, ist gewillt, viel zu investieren, um seine möglicherweise noch lebende Schwester zu finden.

"Youth sells" ist ebenso ein Grundprinzip von Netflix wie seine Internationalität. Dieser sechsteilige makellose Thriller aus Polen ist ein Beispiel dafür, welche Stoffe überregional erfolgreich sein können. "Das Grab im Wald" setzt auf archaische Grundszenarien menschlicher Beziehungen, die jeder nachvollziehen kann, der einmal jung war. Liebe, die bleibt, obwohl sie vergangen ist. Dazu traumatische Erinnerungen, von denen es kein Entkommen gibt. Das Mysteriöse der Geschichte ufert im polnischen Thriller nicht in physischen oder psychischen Gewaltorgien aus. Und es macht auch nicht den Fehler, der beste Mysterythriller aller Zeiten sein zu wollen. Stattdessen findet "Das Grab im Wald" in starken Bildern, klugen Wendungen und interessanten Charakteren seine Qualitäten.