Die Zukunft ist näher, als man denkt. Das Befremdliche oft vertrauter, als man sich eingestehen möchte. Die 2002 uraufgeführte Musical-Utopie „We Will Rock You“ beispielsweise erzählt von einer fernen Musik-Diktatur, in der mächtige Konzerne die Welt der Kreativität kontrollieren. Individualität ist dort verboten und durch bizarre, computerbasierte Wohlfühl-Trällerei ersetzt worden. Instrumente gibt es keine mehr, der Resonanzraum der Seele ist somit zerstört worden. Ja, Harmonie(n) existiert in dieser tristen Welt, aber von Melodien kann nicht mehr die Rede sein. Doch dieser so fern wirkende Kosmos ist längst keine weit entfernte Galaxie mehr. Der „K-Pop“, also die koreanische Interpretation des westlichen Pop-Zirkus, kommt der geschilderten Welt ziemlich nahe. Zunächst als hip-exotische Subkultur der asiatischen Musik-Welt gehandelt, sorgen Bands wie BTS, Exo, Red Velvet oder Twice mittlerweile weltweit für Furore. Seit 2015 listet der Musik-Streaming-Dienst Spotify „K-Pop“ als eigene Musiksparte.

Eine im Februar erstellte Statistik der Plattform hält den Hype in Zahlen fest: 134 Milliarden Minuten wurde das Genre gestreamt, die Band BTS allein hält bei acht Milliarden Streams. Rund 70 Prozent der Hörer sind weiblich, 50 Prozent zwischen 18 und 24 Jahren. Was besonders überrascht: Das Land mit den meisten K-Pop-Hörern befindet sich nicht in Asien. Es sind die USA. Doch auch in Ländern wie Brasilien oder Ägypten ist die Musik am Vormarsch. Und das, obwohl asiatische Phänomene abseits von Autos und technologischen Grundbedürfnissen im Regelfall den Anschluss im Westen verpassen und als Obskurität abgetan werden.

Anders als bei abgehobenen hiesigen Pop-Sternchen ist die koreanische Musikindustrie darauf bedacht, ein scheinbares Näheverhältnis zu den Stars aufrechtzuerhalten. Die berühmten und eigentlich streng abgeschotteten Sänger werden als die süßen, etwas schüchternen Burschen von nebenan stilisiert. Ein philosophischer Grundpfeiler der Szene ist das ehrenwerte Leben, das als Vorbild auf die meist jungen Hörerinnen und Hörer wirken soll. Dating-Gerüchte und Party-Eskapaden? Fehlanzeige. Meist verpflichten sich die gecasteten, am Reißbrett entworfenen Boy- und Girl-Bands vertraglich dazu, auf ein Liebesleben zu verzichten. Die Fans jubeln ihren Stars nicht nur beim Konzert zu. K-Pop-Konsumenten treten im Internet nicht bloß als geeinte Fan-Gemeinde, sondern vielmehr als mächtige Guerillabewegung auf. Auf Twitter, Instagram und TikTok wird stündlich für verschiedenste Themen mobilgemacht.

K-Pop ohne K-Mob? Das funktioniert nicht. Selbst nennen sie sich „Armee“. Wie passend. Denn oft ist nicht klar, wer wen führt. Sind es die vorbildlichen, angehimmelten Stars oder ist es die Masse, die als emanzipierter Weisenrat den Weg vorgibt? Um es mit dem Künstlernamen des K-Pop-Gespanns „Blackpink“ auszudrücken: Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen bedrückendem Schwarz und überschwänglichem Pink.
Zweifellos ist die geteilte Welt des K-Pop weiter auf dem Vormarsch und wird weiter Neuland erobern. Doch dass die anonyme Internet-Armada sich ausgerechnet im politischen Aktivismus niederlässt, widerspricht sich drastisch. Freie Meinungsäußerung und das Durchschimmernlassen einer persönlichen Haltung ist in den Sphären des K-Pop nicht vorgesehen, ja sogar verpönt. Charakter spielt man, hat man jedoch besser nicht, wenn man ein Star in Korea sein will. Mächtige Konzerne und Manager lassen derlei Tendenzen im Keim ersticken. Umso eindrucksvoller war die öffentliche Unterstützungserklärung der Band BTS, die sich in einem Tweet klar hinter die „Black Lives Matter“-Bewegung stellte und eine Million Dollar spendete.

Das Echo der Internetkammer, die sich von „ihrer“ Band herausgefordert fühlte, ließ nicht lange auf sich warten. Innerhalb eines Tages sammelten Fans ebenfalls eine Million Dollar. Doch damit nicht genug. Bei einer Wahlkampfrede von US-Präsident Donald Trump im vergangenen Monat, seinem ersten Massen-Event seit der Coronakrise, spielte die „Armee“ dem Republikaner einen Streich. Statt vor einer halben Million Zuseher musste Trump vor mickrigen 6000 Unterstützern sprechen. Die unsichtbare Fangemeinde hatte einen Großteil der Karten, ohne die Absicht zu erscheinen, aufgekauft.

"Die Armee" macht in Tulsa Donald Trump einen Strich durch die Rechnung
"Die Armee" macht in Tulsa Donald Trump einen Strich durch die Rechnung © (c) AFP (NICHOLAS KAMM)

Seither übt sich die K-Pop-Szene in zartem politischen Engagement. Als die Polizei von Dallas im Zuge der „Black Lives Matter“-Proteste eine App zur Dokumentation von illegalen Demonstrationen einführte, sorgten Fans durch eine gezielte Überflutung der Kanäle mit Pop-Videos für den Zusammenbruch des Programms. Doch wie es in der Natur einer Armee liegt, verteidigt diese nicht nur, sondern greift auch an. Wie schmal der Grat zwischen Richter und Henker ist, hat die Begeisterungsbewegung in Korea bereits bewiesen. Allein im vergangenen Jahr nahmen sich drei Stars das Leben. Die Sängerin Sulli äußerte sich feministisch, Goo Hara unterzog sich einer Schönheits-OP. Beide waren massivem Internet-Hass seitens der „Armee“ ausgeliefert.

K-Pop-Fans
K-Pop-Fans © (c) AFP (ED JONES)