Wenn man im Jahr 2021 auf den Flaneurplattformen Facebook oder Instagram den blanken Busen zeigt, riskiert man gut und gern eine Abmahnung – zwecks der Sittsamkeit warat’s. Da nimmt sich die Malerei des 16. Jahrhunderts in Venedig fast wie ein Paradies für Voyeure aus. Wer also durch die große Herbstausstellung des Kunsthistorischen Museums mit dem Titel „Tizians Frauenbild. Schönheit – Liebe – Poesie“ lustwandelt, der sieht nicht nur viel nackte Haut, sondern umwerfend schöne Frauen. Das dazugehörige Wort heißt: Idealbild.

Im Venedig des 16. Jahrhunderts feierte man in geradezu allen Disziplinen die Frau. Was Dichterfürst Francesco Petrarca schon im 14. Jahrhundert zu seinem Lebensinhalt gemacht ha, nämlich das Bild der schönen Laura geradezu exzesshaft zur perfekten Schönheit zu dichten, artete im 16. Jahrhundert in Venedig mehr oder weniger zum Wettstreit aus: Wer schafft die schönere Frau – die Literatur oder die Malerei?

Einer, der in dieser Disziplin herausragt, ist der Maler Tiziano Vecellio alias Tizian (um 1488 –1576). Mehr als 60 seiner Frauenbildnisse, ergänzt mit Werken seiner Mitstreiter wie Palma il Vecchio, Lorenzo Lotto, Paris Bordone, Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese, geben in der Ausstellung Einblicke in diese Welt. Eine Welt, in der die idealisierte Frau auf der Leinwand gleich in mehrere Rollen schlüpfen musste: die keusche Verlobte, die sittsame Ehefrau, Göttin, Heldin und Heilige.