Zwischen Himmel und Hölle

Einzelne Songs herauspicken ist, zugegeben, schwierig und entspricht nur zu gut dem Hit-Prinzip, das auf isolier- und damit verwertbare Drei-Minuten-Stücke setzt. Aber ganz diesem Prinzip folgend zum Start ein Hit des Jahres 2018, der sich ins Ohr spült: „Under Water“ vom zweiten Album der 23-jährigen oberösterreichischen Songwriterin Avec zieht mit seinem Sog in die Tiefe – also tief Luft holen und gleich durchs ganze Album tauchen: Himmel und Hölle, das ist eigentlich ein Kinderspiel, und so leichtfüßig glockenhell beginnt „Heaven / Hell“, um dann experimenteller und dunkler zu werden. Poppiges feines Singer-Songwriting mit elektronischen Noten, das, in Irland produziert, dort (mit einem Schuss Whiskey?) rauen Feinschliff erhielt.

Unterwegs mit Gitarre

Apropos Irland: Fin Divilly ist ein junger Musiker vom alten Schlag aus Dublin, dem man aber überall in Europa beim Trampen über den Weg laufen kann, seine Gitarre stets im Anschlag. Dann wird er einem einen seiner Songs spielen – irisch-melancholisch, folkig-rockig, authentisch-unprätentiös: wie das aktuelle Album. Das nächste ist schon im Entstehen und wurde zu großen Teilen in Graz geschrieben. Manchmal kann man Fin aber auch zu Hause antreffen, womöglich zwischen den Dächern in der Dubliner „Liffey Street“, wo er die Videos zum gleichnamigen Album gedreht hat.

Back to Power

Das Powerhouse ist zurück – nach sechs Jahren Pause, persönlichen Krisen und Wechsel der Plattenfirma, nachdem ihr Matador zu viel kommerziellen Druck gemacht hatte und das Album nicht veröffentlichen wollte. Gut, dass sich die „woman of my word“ davon nicht hat abbringen lassen. Das hymnisch-folkige Intro, trauriger gespiegelt im Exit und der Albumtitel „Wanderer“ sind einem verstorbenen Freund gewidmet; zwischen hell und dunkel changierendes, wunderschönes Klagen und Wandeln durch Gefühle. Oder mit den Worten zweier anderer Wanderer (Mayröcker/Scardanelli): „Gesänge von Manie der alte Föhrenarm gebrochen, athmet der Waldrand der Schmerz und preszt sein Blut aus diesen süszen Adern“.

Stadtwandeln mit Gummibären

Sie klingen verlässlich. Wie immer. Seit 33 Jahren. Die surreal angeschrägten Alltage von Element of Crime. Auch jene, an denen „es dunkel und kalt wird in Berlin“ und es „Schafe, Monster und Mäuse“ regnet. Sven Regener & Co. streifen ironisch durch das Verhipstern und Monetarisieren der Stadt, ohne darüber zu verbittern – fürs Grantlertum gibt es schließlich das lyrische Ich. Ein Album voll Lokalkolorit und melancholischem Humor, das nicht nur manch alteingesessenem Berliner Flaneur Trost spenden kann. Kalt werden (nicht nur) die Winter nämlich auch für Nicht-Berliner, so sie „um die Häuser zieh’n“, und erst recht, wenn sie es nicht tun.

Mafia und Čaršija im Mondschein

Von Balkansound beschwingte, tanzbare Milieustudie der Kultband aus Sarajevo. „Zum Frühstück eine Handvoll Apaurin, zusammen mit einem Mann mit zwei Söhnen, Mafia plus Čaršija, eine kurze Biografie, das war mein Leben.“ – „Amilas Lied“ ist als Epilog zu zwei Ende-80er-Hits der Band angelegt („Balada o Pišonji i Žugi“, „Pišonja i Žuga u paklu droge“). Die Figuren Pišonja, Žuga und Amila haben reale Vorbilder, deren Jugendeskapaden in einem Sarajevo, das es nicht mehr gibt, nun auch verfilmt werden sollen. Durch die Songs sind sie in Jugoslawien mindestens genauso bekannt geworden wie Zabranjeno pušenje (dt.: Rauchen verboten) selbst. Die Garage-Punk-Rock-Band erlangte aber auch traurige Berühmtheit, als sie sich im Zuge des Bosnienkriegs aufspaltete: Die serbischen Mitglieder gingen – aus persönlichen wie auch politischen Gründen – nach Belgrad und formierten sich dort zum No Smoking Orchestra rund um Emir Kusturica.

Sanfte Wucht

„Broken Politics“ – eine kaputte Politik konstatiert Neneh Cherry. Sie versucht es statt mit Anschreien mit zartem Ansingen und -sprechen gegen die Missstände, etwa die Bedingungen im Flüchtlingslager von Calais. Ein klanglich ruhiges, gefühlvolles Album mit wuchtigen Lyrics: „Pick up a gun, you know you gonna use it, know that gun, it’s gonna get loaded“ – das akustisch reduzierte „Shot Gun Shack“ handelt von Waffengewalt und deren Allgegenwart. Und so heißen die kleinen, rechteckigen Häuser, die in den Südstaaten der USA und heute als Sinnbild für Armut stehen. Politisch war Cherry schon in ihren Hits der 80er- und 90er-Jahre. Herrschaftsverhältnisse, soziale Ungleichheit und Politikverdruss werden sich wohl nicht durch die gern besungene „Love“ allein lösen lassen – musikalisch funktioniert das auf „Broken Politics“ aber hervorragend.

Betörende Electro World

Yasmine Hamdan – Jim-Jarmusch-Fans aus „Only Lovers Left Alive“ wohlbekannt – hat mit ihrem eigenen Album experimentiert und aus „Al Jamilat“ vom Vorjahr die „Jamilat Reprise“ kondensiert. Jeder der neun Songs wurde von anderen internationalen Elektro-Musikerinnen oder -Musikern neu arrangiert – wieder mit Hamdans Stimme, die wie immer betört. Ihre emotionale, übers Punkeisen geriebene arabische Gesangskunst bricht sich nur oberflächlich an den Elektro-Remixes von Acid Arab über Brandt Brauer Frick bis zu Olga Kouklaki und verwebt sich mit ihnen zu wunderbaren neuen Klangtexturen.

Four Letter Worlds

Bleiben wir elektronisch, diesmal minimalistischer. Mondmeere zum Eintauchen und Wellengleiten in einem Alben-„Raum“ mit warmem Ambiente des mittlerweile in Graz lebenden DJs Clemens Neufeld. 

Dance der Moleküle

Die neu erwachte Liebe zum Elektronischen bei Sophie Hunger sei auf ihren Umzug nach Berlin zurückzuführen, heißt es. Die Schweizerin nennt es „Minimal Electronic Folk“, führt damit aber ihren sprachreflexiven Zugang fort, diesmal fast nur in Englisch. „Molecules“ spiegelt die „materielle Wirklichkeit meiner Welt“, sagt Hunger – aus althergebrachten Songwriting-Klischees wie „bones, blood and birds“ werden „plastic, plutonium und particles“. Klingt kühl, doch die Stimme wärmt und breitet persönliche und politische Inhalte, wie die ausschlaggebende Rolle von Frauen bei der Wahl von Donald Trump, mit ironischer bis trauriger Geste über pulsierende Sounds.

Wer im Glashaus sitzt, sollte es selbst abhören

Schmerzhafte Anmut – die hohen Glastöne über den tiefen Klangschalen-Schwingungen pieksen wie Nadelstiche im Ohr und sorgen für einen spannenden Zustand des Immer-nicht-ganz-Versinkens in dieser Ambient-Auralisation eines Glashauses. Die Impro-Komposition beruht auf einer Performance 2016 im Glass House von Philip Johnson in New Canaan. Noto & Sakamoto verwendeten dafür Keyboard, Mischpult, Klangschalen, Crotales sowie Gongschläger, die an den Glaswänden gerieben wurden. Die dadurch erzeugten Schwingungen haben sie mit Kontaktmikrofonen von den Wänden abgenommen, hier live

Wer im Glashaus sitzt, sollte mit Steinen werfen 

„All at Once“ – ja, genau, alles auf einmal ist diese eingängige Zitatsammlung aus der postmodernen Rumpelkammer, die die Screaming Females aus New Jersey entrümpelt haben und deren Fundstücke sie verdammt kraftvoll neu in Szene setzen – von Punk über Rock und Pop bis zur Malerin Agnes Martin, der ein Song auf diesem Album gewidmet ist. Im „Glass House“ schimmern Amanda Palmer und noch viele und vieles andere durch. „You’ll always control me.“ Wer im Glashaus der Überwachung sitzt, sollte mit Steinen werfen. Alle auf einmal. Oder fetzend klare, hohe Töne anstimmen wie Marissa Paternoster.

Dreifaltigkeit mit böser Hexe 

Nach “Not the Actual Events” (2016) und “Add Violence” (2017) folgt mit “Bad Witch” der dritte Teil der Trilogie – und was für einer: rough, tough, rusty Nails! Trent Reznor de- und rekonstruiert sich zu einem alten neuen und macht seinem Image als professionellste Inszenierung von Selbstdestruktion im Musikbusiness alle Ehre. Aber die sechs Titel der EP gehören zusammen, fließen ineinander zu dreckigen, harten, knarzigen Industrie-Soundflächen, weit weg von vermarktbaren Hits. Fazit der bösen Hexe: Alles ausweglos, alles sinnlos – hier ist der schönste Soundtrack zum Ich-Welt-Untergang. Das macht Hoffnung.