Er kam zur rechten Zeit. Am 17. Dezember 1770 wurde Ludwig van Beethoven in Bonn getauft. Hineingeboren in schwierige Familienverhältnisse als Kind eines unzuverlässigen Vaters. Das Talent hatte, wie angeblich so oft, eine Generation übersprungen und rührte vom Großvater her, einem Einwanderer aus dem heutigen Belgien. Schnell musste Ludwig lernen zu kämpfen, der Kampf wurde später zu einem der Leitmotive seines Lebens. Schicksalsschläge, Krankheiten, Zurückweisungen waren mitprägend für seine Existenz und letztlich auch seine Kunst. Und doch: Er kam genau zur rechten Zeit.

Schon in Bonn kam der junge Beethoven mit den Ideen der Aufklärung in Berührung. Um 1800 sollte er in Wien zu ihrem bedeutendsten musikalischen Propagandisten werden, zu einem Künstler, der wie kaum ein anderer die bürgerliche Emanzipation verkörperte. Beethoven wurde zum kritischen Zeitgenossen, der sich nicht für die adelige Abstammung von Menschen interessierte, sondern für deren Tugenden.

Das aufregend Neue an Beethoven als Künstler ist sein Interesse am Individuum. Beethoven ist nicht der erste Komponist, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt. In Mozarts Opern steckt ebenso viel Menschenkenntnis wie in den Dramen Shakespeares und schon lange davor, im Barock, maßen Komponisten die Feinheiten der Seelenlandschaft präzise aus. Doch bei Beethoven erreicht diese Beschäftigung eine völlig neue Qualität: Der Mensch ist nicht länger Rädchen im Weltgefüge, sondern ein selbstbestimmtes Subjekt, ein Gestalter der Welt. Seine Gefühle, Hoffnungen, Ängste und Kämpfe beschreibt und behandelt Beethoven in einer Musik, die ohne Worte auskommt. Der neue Individualismus wird später von der Romantik aufgegriffen und zum Teil stark modifiziert fortgesetzt.

Die Biografie Beethovens veranschaulicht dieses neue Selbstverständnis von den Rechten des Einzelnen, von der Wandlung vom Objekt der Gesellschaft zu ihrem Subjekt. Als er geboren wurde, herrschte noch das Perückenzeitalter des Feudalismus, es regierte ein mehr oder weniger aufgeklärter Absolutismus. In Wien fand Beethoven in den 1790ern schnell adlige Gönner. Doch das traditionelle Verhältnis zwischen wohlgeborenen Herrschaften und ihren Künstler-Bediensteten begann sich damals aufzulösen. Beethoven bezog von seinen reichen Freunden eine Leibrente und verpflichtete sich im Gegenzug nur dazu, nicht aus Wien wegzuziehen. Er war nicht Lakai, sondern ein neuer Typ Künstler. Er versah seine Werke mit Opuszahlen und schrieb viel weniger als noch die Komponisten seiner Elterngeneration. Seine Tätigkeit war kein bloßes Handwerk oder gar Fließbandarbeit, seine Werke haben, wie es so schön vielsagend heißt, Bekenntnischarakter.

Das bekennende Ich ist aber 1800 naturgemäß längst nicht emanzipiert. Die Bedrohung des napoleonischen Heeres lässt das kulturelle Klima Wiens zusehends reaktionär werden. Und Beethoven muss schließlich auch zum Unternehmer in eigener Sache werden, der sich auf dem neu entstehenden Markt behauptet. Der Geschmack der Gönner wird vom Wohlgefallen des breiten Publikums als bestimmendem Faktor abgelöst.

So lebt Beethoven im kurzen Zeitalter zwischen Feudalismus und bürgerlichen Kapitalismus, einer utopischen Epoche, in der leidenschaftlich vom Heraufdämmern eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft geträumt, fabuliert, gesungen und gesprochen wird. Dieses utopische Element ist das zweite beherrschende Motiv seiner Kunst, das vor allem die „heroisch“ genannte Schaffensphase zwischen 1802 und 1812 prägt. Beethoven ist in dieser Zeit am Zenit des Erfolgs. Unermüdlich entwirft er Symphonien, schreibt Kammermusik, und auch seine einzige Oper „Fidelio“ entsteht in dieser Zeit. Gemeinsam mit den Symphonien Nr. 3 und 5 repräsentiert „Fidelio“ den Höhepunkt von Beethovens heroischer Ideenmusik, eine in Töne gesetzte Moralphilosophie und zugleich Fanal einer neuen Ära, die geradezu herrisch klingt. Beethoven hat seinen neuartigen „Sound“ auch der französischen Revolutionsmusik entlehnt, von den Märschen und Liedern, die zum Sturmlauf auf eine bessere Zukunft aufrufen. Dieser nicht grobe, aber große, machtvolle Tonfall hat das Klischee vom Titanen Beethoven befeuert.

Der Komponist verknüpft in seiner Musik den Willen des Subjekts und die politische Dimension dieses Willens unauflöslich miteinander. Das freie Individuum muss sich in einer neueren, größeren Gemeinschaft verwirklichen, es ist gleichsam die Verantwortung, die ihm aus der Freiheit erwächst. Noch in seiner Spätphase, in der Symphonie Nr. 9, setzt Beethoven eine solche Vereinigungsfantasie ans Ende. „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt“, heißt es dort in nicht mehr steigerbarem Pathos.

Aber gerade ihr kämpferisches Pathos und ihre herrischen Züge machen Beethovens Musik zum Problemfall. Der bedeutende Beethoven-Experte Martin Geck sieht darin „Machtgesten“. Wenn man sich die Rezeptionsgeschichte ansieht, die zum Teil schon zu Beethovens Lebzeiten einsetzt, werden diese besonders deutlich erkennbar. Deutsche Nationalisten, konservative Bürger, Kommunisten und Nationalsozialisten – Beethovenhörer aller Couleurs sehen in seiner Musik ihre Anliegen verwirklicht. Einmal ist Beethoven das Medium der „tiefen deutschen Seele“, einmal leuchtendes Vorbild als Kämpfer gegen die Unterdrückung des Proletariats, einmal heroisch-soldatischer Proponent des völkischen Faschismus: Beethovens Musik lässt das mit sich machen.

Der Grund dafür ist gar nicht, dass reine Instrumentalmusik aufgrund ihrer natürlichen Uneindeutigkeit besonders gut zu missbrauchen ist – gerade dort, wo Beethoven scheinbar unmissverständliche Worte gebraucht, im Finale der 9. Symphonie, wurde der Missbrauch am weitesten getrieben. Die immense, geheimnisvolle Tiefe seiner Musik, ihr grandioser, feierlicher Gestus macht sie anfällig. Sie kann spielend leicht in den Dienst des Irrationalismus gestellt werden. Oder noch Schlimmeren.

In den späten Jahren seines Lebens ändert sich Beethovens Tonfall noch einmal. Seine allmähliche Ertaubung nährt eine schwere Krise samt Selbstmordversuch, Depressionen, Alkoholmissbrauch und Vereinsamung. Dazu kommt ein aufreibender Streit um die Vormundschaft über den Neffen Karl, wo Beethovens wohlmeinender Idealismus am praktischen Beispiel – der Erziehung eines Kindes – mit Pauken und Trompeten scheitert. Doch der Kämpfer und Künstler Beethoven übersteht diese Krisen. In seinem Spätwerk transzendieren sich seine Themen ins Metaphysische. Die Religion und das Göttliche durchziehen die letzten Werke, die sich häufig nicht mehr kämpferisch, doch an kaum einer Stelle resignierend geben. Beethoven formt in einer immer freieren kompositorischen Anlage, aber zugleich auch mit einer Rückkehr zu alten Formen wie der barocken Fuge seine Visionen noch einmal zu Klang.

Versöhnlicher zeigt sich Beethoven gegen Ende seines nur 56-jährigen Lebens, aber seine Ansprüche schränkt er nicht ein. Seine Ansprüche an sich selbst, an seine Mitmenschen und an die Kunst. Diese soll nie nur angenehm sein, sie soll etwas bedeuten, herausfordern. Der Konzertalltag lässt das heute gerne vergessen. Beethoven ist längst als Klassiker eingemottet und zur Abendentspannung herabgesunken. Aber der Anspruch schließt das Publikum natürlich mit ein. Das macht Beethovens Musik heute wie damals zu einer Zumutung. Seine Kunst erhebt immer noch Einspruch: gegen unsere Lebensführung, unsere Überzeugungen, unsere Bequemlichkeit. Vom bloßen Hören von Beethovens Musik wird vermutlich niemand zum besseren Menschen gemacht. Aber sie erinnert uns mit aller Macht, die der Kunst jemals zu Gebote stand, daran, dass wir dafür auch etwas tun könnten.