Der Komponist Tobias Schwencke hat die beiden Sphären aufeinandertreffen lassen: Da Franz Schuberts Zyklus "Winterreise", der berühmte Leidens-Trip eines aus der Welt Geworfenen, der über die Einsamkeit in den Tod führt. Dort Nick Caves düsterste Songs aus der Todeszelle (das titelgebende "Mercy Seat") bzw. Lustmörderballaden ("Where the wild roses grow").

Der Schauspieler Charly Hübner ("Polizeiruf  110") nimmt einen mit auf diese dunkelschwarz eingefärbte Reise. Der Mann in der Todeszelle, den fiebrige Erlösungsphantasien umtreiben, geht auf eine letzte Reise. Hübner singt, bzw. rezitiert die Texte, und das ensemble resonanz spielt Schwenckes gruselige Arrangements, die teilweise ("Die Nebensonnen") genialisch ausfallen. Dazwischen fügten sich ein im Chor im norddeutschen Dialekt gesungener "Linnneboom" und als tröstende Vision das Adagietto aus Gustav Mahlers Symphonie Nr. 5.

Die dramaturgische Ansatz ist die "Flucht vor der eigenen Schuld", was Schuberts Lieder selbst zu einer Art von Mörderballaden verwandelt. Eine Perspektive, die Schuberts Lieder eine neue Bedeutung erschließt. Das Resultat ist enorm theatralisch, was sowohl Schwenckes musikalische Lösungen als auch Hübners Vortrag betrifft.

Mercy Seat Winterreise. ensemble resonanz, Charly Hübner. resonanzraum records. Als CD, Download oder Stream.

Bach. Goldberg-Variationen. Lang Lang

Liveauftritt in der Leipziger Thomaskirche: Lang Lang kniet vor Bachs Grab
Liveauftritt in der Leipziger Thomaskirche: Lang Lang kniet vor Bachs Grab © Stefan Hoederatz

Dieses Konzert zu spielen und aufzunehmen führt mich auf die nächste Stufe des Klavierspiels, denke ich. Ich bin jetzt 38, ich fand, dass es der richtige Zeitpunkt war für ein neues Kapitel meiner künstlerischen Entwicklung.“ So der Starpianist Lang Lang zum Album, auf dem er einen Gipfel der Klaviermusik erklimmt. Bachs Goldberg-Variationen legt der Pianist aus China gleich in zwei Versionen vor: einer Studiovariante und als Mitschnitt eines Konzerts in der Leipiziger Thomaskirche.
Die virtuosen Toccaten, also die Mittelstücke der in Dreiergruppen gegliederten Variationen, sind Lang Langs ureigenes Metier: In den Nummern 20, 23 und 29 brennt er – vor allem in der Studioaufnahme – ein pianistisches Feuerwerk ab. Dass er an vielen anderen Stellen zum Teil extrem ruhige Tempi wählt, ist kein Widerspruch: Lang Lang verwandelt die Variationen in eine Folge von Schau- bzw. Hörstücken und geht dabei gern ins pianistische Extrem. Das gelingt in der zweiten Hälfe wesentlich überzeugender. Den schönsten Moment bringt die 30. Variation, die man noch nie als so sehnsuchtsvollen Blick zurück gestaltet gehört hat.

Auch wenn der Ton schlank-barockisierend ist, die Läufe brillant funkeln und die Verzierungen ganz wunderbar gestaltet und in den Lauf eingebettet sind, man vermisst letztlich den großen Bogen. Nicht wenige andere Pianisten haben mit viel weniger technischem Aufwand aus diesem Werk mehr musikalische Tiefe gewonnen. Es ist ein Spektakel, aber ein seltsam ereignisarmes. Johann Sebastian Bach. Goldberg Variations. Lang Lang (Klavier). Deutsche Grammophon. Auf CD und LP, als Download und Stream.