Es ist einerseits ja überhaupt kein Wagnis, „Die Passagierin“ aufs Programm zu setzen, weil man sich damit automatisch ins moralische Recht setzt. Gegen diese Thematik hat es die ästhetische Kritik schwer, etwaige Fragen würden rasch ins Ethische abzweigen: Darf und soll Auschwitz als Opernstoff dienen? Andererseits ist die Aufführung zugleich natürlich ein Riesenwagnis, weil das Stück enorme Herausforderungen stellt und man bei der Umsetzung viel falsch machen kann.

In der Grazer Oper macht man zum Saisonauftakt so gut wie alles richtig. Mieczyslaw Weinbergs (1919 – 1996) erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführtes Werk von 1968 profitiert davon, dass Regisseurin Nadja Loschky nicht auf einen peniblen Realismus setzt wie einige der bisherigen Produktionen der „Passagierin“. Sie schuf einen blassen, blaugrauen Erinnerungsraum, ein Schauplatz der Traumata, in dem drei Zeitebenen ineinanderrinnen: Das Grauen verschwindet nicht, es bleibt präsent. Die drei Mal auf der Bühne präsente, einstige KZ-Schergin Lisa (Dshamilja Kaiser, Isabella Albrecht, Viktoria Riedl) mag sich immer noch verstockt am Glauben festklammern, sie hätte ihre Pflicht erfüllt. Es bleibt eine verzweifelte Selbsttäuschung, die nicht überdecken kann, dass Auschwitz kein Ort ist, den man so einfach verlassen kann. Und das gilt für Opfer und Täter gleichermaßen.

Loschky findet Bilder für das niemals endende Grauen dieser Todesmaschine, lässt die Gespensterfrauen aus dem KZ den alt und grau gewordenen Naziblondschopf Lisa heimsuchen, arbeitet mit naturalistischen Holocaust-Zitaten (Kleiderhaufen) und Symbolischem (Menschen in Vitrinen). Mit Dshamilja Kaiser steht eine fulminante Lisa, eine zum Befehlen geborene Herrin zur Verfügung, ein gerundeter, charaktervoller Mezzo, warm und ohne Härten, während Nadja Stefanoff eine intensiv leuchtende Passagierin Marta singt. Wie überhaupt die aus Gästen und hauseigenem Ensemble zusammengesetzte Sängerschar bis in die kleinste Rolle überzeugt. Will Hartmann als entgeisterter Ehemann und Diplomat, Markus Butter als samtweicher Tadeusz, die optisch ihrer Individualität verlustig gegangenen KZ-Insassinnen, deren einzelne Auftritte Erinnerungen an ihre Menschlichkeit wecken (Tetiana Miyus, Antonia Cosmina Stancu, Anna Brull, Mareike Janowski, Sieglinde Feldhofer, Joanna Motulewicz), die grotesk verzerrten SS-Karikaturen in Breeches und mit Seitenscheitel (Ivan Orescanin, David McShane, Martin Fournier) – sie alle gemeinsam formen diesen Abend zu einem wahren Triumph des Musiktheaters.

Roland Kluttig beeindruckt bei seiner ersten Grazer Premiere als Chefdirigent. Die inhomogen wirkenden Teile dieser von Schostakowitsch inspirierten, aber viel introspektiveren, weitgespannten Musik zwischen kompletter Reduktion und Ausdünnung, knalliger Attacke, schillernden Lyrismen, intensivster Dramatik bis hin zu der an zentraler Stelle eingearbeiteten Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Geigenpartita Nr. 2 werden vom Dirigenten souverän zusammengehalten und von den Grazer Philharmonikern exzellent musiziert.

Die Grazer Oper startet mit diesem Stück, das eigentlich bereits im März aufgeführt hätte werden sollen, glanzvoll in die Saison. Es ist letztlich kein Betroffenheitstheater, das seine Zuseher in moralische Geiselhaft nimmt und auf Rührung abzielt, sondern meisterhaftes Musiktheater, das eigentlich Unbegreifliches darzustellen trachtet und aufrüttelt. Man kann sich dem Jahrtausendverbrechen tatsächlich auch in Gestalt der großen Oper nähern. Und das ist die überraschendste Erkenntnis eines aufschreckenden Abends.