Der Ansatz ist richtig: Man muss das Beethoven-Jahr mit Zeitgenössischem würdigen. Der deutsche Komponist Christian Jost und Librettist Christoph Klimke knüpfen mit ihrem „Egmont“ mehrfach an Beethoven an. Auch Beethoven hat ja Musik zu Goethes Tragödie verfasst. Jost übernahm die von Beethoven damals gebrauchte Orchesterbesetzung. Klimke verschränkte die politischen Dimensionen des Stoffs mit poetischen Einlassungen, in denen er aus Beethovens Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ zitiert.

Und, am wichtigsten freilich: Das Drama um den Freiheitskampf der Niederländer gegen Spanien kommt Beethovens gesellschaftlichen Idealen sehr nahe. Der Titelheld ringt mit sich und seinem Umfeld bis zum Tode (eher solide als glanzvoll: Edgaras Montvidas) mit einer Repression, die alles Leben vergiftet. Bo Skovhus (noch immer einer der imposantesten Bühnenerscheinungen) ist der Proponent einer ins Sadistische verzerrten Schreckensherrschaft. Kein Opernbösewicht, sondern mit Komplizen Macchiavell (Károly Szeméredy) die inkarnierte Menschenverachtung.

Die Spuren des Unrechts

Die seelischen Deformationen, die das Unrecht bei allen Figuren hinterlässt, auch sie finden in Keith Warners exzellenter Regie Berücksichtigung. Maria Bengtsson als Carla, Angelika Kirchschlager als Margarete und Theresa Kronthaler als Albas Sohn sind die Schachfiguren des in Schwarz und Weiß gehaltenen Machtspiels. Warner stellt ein stark stilisiertes Kostümdrama auf die Bühne, dessen äußere Handlung er mit surrealistischen Bildern unterläuft bzw. intensiviert. Kraniche, Gitterboxen, von Seilen baumelnde Akrobaten, das alles ist nicht nur schick, sondern anregend. Wobei die virtuos schnellen Bildwechsel genau auf Josts Musik reagieren. Denn der findet für jede Szene spezielle kompositorische Lösungen, die der phänomenale Schoenberg Chor und das RSO Wien unter dem souveränen Maestro Michael Boder ausgezeichnet darstellen. Dass der Abend im zweiten Teil lauer wird, können sie dennoch nicht verhindern.

Jost komponiert polystilistisch: Mikrotöne und Minimal Music, rhythmische Zellen und sphärische Flächen, Liedhaftes, Jazziges und romantische Surrogate verschmelzen zum postmodernen Statement. Die Musik ist wie die Einflugschneise für die Geister der Vergangenheit und mit ihrer Gleichzeitigkeit der Stile und Epochen ein spannender Beleg für die Stasis gegenwärtiger Ästhetik. Von der prozesshaften, nach vorne schauenden Kunstauffassung Beethovens muss das naturgemäß so weit entfernt bleiben wie 1800 von 2020.