Bei der Programmplanung gaben sich die Wiener Philharmoniker in Sachen Strauß-Dynastie wieder entdeckerfreudig. Blumenfest-Polka. Polka „Cupido“. Liechtenstein-Marsch. Polka „Eisblume“. Dazu Werke von Hans Christian Lumbye, Josef Hellmesberger und Carl Michael Ziehrers knallige Ouvertüre zu „Die Landstreicher“. Das Programm war schon einmal populärer als dieses Jahr, in dem sich der Fokus auf die Ränder des Repertoires verlagerte. Und Josef Strauß war fast so prominent vertreten wie sein Bruder, Walzerkönig Johann.

Bloß gut, dass das beste Strauß-Orchester der Welt am Podium sitzt. Gemeinsam mit Andris Nelsons bieten die Philharmoniker eine Klangkultur und Finesse, die solche Werke in Kostbarkeiten verwandeln: die samtene, festliche Schönheit des Walzers „Liebesgrüße“, der Glanz und die Eleganz, die den Liechtenstein-Marsch überhaupt erst interessant machen, all die zierlich modellierten Lyrismen und die sanfte Melancholie, in der die „Citronen“ im Walzer Johann Strauß’ erblühen. Aus dem ersten Konzertteil holt Nelsons fast ein Maximum heraus. Fast. Die Virtuosität der „Landstreicher“ begräbt er gleich einmal unter einer Breitseite, wie der Lette generell keine Angst vor massiven Klangballungen kennt: Suppés „Leichte Kavallerie“ hat wohl Boden-Luft-Raketen am Sattelzeug befestigt. Auch die Polka „Knall und Fall“ von Eduard Strauß heißt nicht von ungefähr so, aber dort macht Nelsons die Lautstärke durch die Einbettung in eine ausgefeilte dynamische Dramaturgie spannend. Seine stärksten Momente hat Nelsons aber dort, wo er der Klangpalette dunkle, warme Farben beimengt, wo sich ein melancholischer, aber nicht sentimentaler Schatten auf die nur oberflächlich unbeschwerte Musik legt.

Eine Auswahl von Beethoven-Contretänzen (samt Urmotiv der „Eroica“) gefällt in ihrer Beweglichkeit, die zuckersüße Gavotte von Josef Hellmesberger ist fein angerichtet und das Um-Ta-Ta in Johann Strauß’ „Freut euch das Lebens“ federt exquisit. Das schwungvolle Geschnatter der „Tritsch-Tratsch“-Polka animiert ein etwas verschlafen wirkendes Publikum schließlich zum Jubel.

Trotz der vielen positiven Aspekte ist nicht alles Gold, was glänzt. Die Melodien der großen Walzer zelebriert Nelsons so schmelzend, dass sie mitunter zerrinnen. „Dynamiden“, „Seid umschlungen, Millionen!“ und „An der schönen blauen Donau“, fehlt es zwar nicht an Kultur, aber an Spannung. Bei den Zugaben hat man es sich ohnehin schwer gemacht. Der Radetzkymarsch wurde ohne Not im Vorfeld zu einer Art Politikum. In der nun verwendeten, „entnazifizierten“ Orchestrierung klingt der Mittelteil anmutig, den Rest hörte man nicht, weil Nelsons das Publikum mit großer Gestik dazu animierte, den Marsch komplett zu zerklatschen.
Probleme bei den Hits, strahlende Nebenwerke – 2020 war dennoch ein guter Jahrgang. Und nächstes Jahr darf wieder einmal Riccardo Muti ran, der genau weiß, wie man Raffinement mit Schwung vermählt.