Herr Hinterhäuser, Sie haben nach unserem Gespräch einen Termin beim Bundespräsidenten, um ihn über Ihr Festspielprogramm zu informieren. Van der Bellen stand ja in diesem Frühjahr ziemlich im Mittelpunkt des Geschehens. Was sagen Sie zu den jüngsten innenpolitischen Vorgängen?

Markus Hinterhäuser: Selbstverständlich habe ich diese Vorgänge genau und intensiv verfolgt, man ist ja auch in keiner Weise verschont geblieben davon. Der Bundespräsident hat das glänzend gemacht. Wenn es je eines Beweises bedurfte, dass man auf dieses Amt nicht verzichten kann, hier wurde er mit großer Klasse erbracht: souverän, ruhig, ohne künstliche Aufregung und klar und elegant in den Entscheidungen.

Dafür werden Sie bei der Festspieleröffnung mit einem Außenminister zu tun haben, der sich bei der Iffland-Ring-Verleihung selbst darüber verwundert zeigte, nun auch Kulturminister zu sein. "Meine Tür ist offen", hat Alexander Schallenberg gesagt. Was nützt das aber, wenn nie jemand zu Hause ist?

Hinterhäuser: Grundsätzlich ist eine offene Tür immer besser als eine geschlossene. Es ist ja nicht so, dass die Kultur es mit einem Übermaß an offenen Türen zu tun hat. Für mich war das Signal von Alexander Schallenberg alles andere als unsympathisch: Ich bin zwar nur eine gewisse Zeit in meinem Amt, aber meine Tür ist offen.

War es nicht befremdlich, dass bei der Suche nach einer interimistischen Regierung Kultur so gar keine Rolle gespielt hat?

Hinterhäuser: Die Regierungsbildung hatte ja mit einer politischen Ausnahmesituation zu tun, aber tatsächlich hat man ein wenig suchen müssen, wo denn die Kultur auf der neuen Ministerliste vorkommt. Ich kann nicht verhehlen, dass ich ein deutlicheres Signal auch ganz schön gefunden hätte.

Hat Sie das Zutagetreten sehr archaischer Phänomene in der Politik auch überrascht?

Hinterhäuser: Die Begrifflichkeit des Archaischen erschließt sich mir im Zusammenhang mit dem Ibiza-Video in keiner Weise.

Welche Begrifflichkeit würden Sie verwenden?

Hinterhäuser: Trostlose Vulgarität. Dieses so ganz offen zutage tretende, niederschmetternde Sittenbild war ja viel weniger überraschend, als man glauben möchte. Überraschend war nur die schamlose Plumpheit der Beteiligten. Ich bin aber sehr gegen den pawlowschen Reflex eines Politiker-Bashings in diesem Zusammenhang. Wir haben das große Privileg, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben. Die braucht Politik und Politik braucht Politiker. Und Politiker brauchen irgendeine Art von Struktur, nennen wir es Partei oder Bewegung. Das pauschal zu verurteilen ist nicht ungefährlich, das sollte man nicht tun. Letztlich hat sich doch gezeigt, dass unser System auch solche unappetitlichen und bedenklichen Vorgänge bewältigt.

Aber war nicht genau das Gegenteil der Fall? Viele haben gesagt: Jetzt ist herausgekommen, wie Politik wirklich ist - nämlich ein schmutziges Geschäft.

Hinterhäuser: Genauso wenig, wie es eine pauschale Anstandsvermutung geben kann, kann es auch eine pauschale Unanständigkeitsvermutung geben.

Noch ehe Sie heuer in Ihre dritten Festspiele gehen, wurde Ihr Vertrag kürzlich bis 2026 verlängert. Haben Sie einen Zehn-Jahres-Plan, den Sie nun verwirklichen können?

Hinterhäuser: Ich mache keine Fünf-Jahres-Pläne und keine Zehn-Jahres-Pläne. Ich habe sehr genaue Vorstellungen, wie Festspiele aussehen können. Ich bewege mich dabei zwischen den beiden Polen des Robert Musil'schen Möglichkeits- und Wirklichkeitssinns. Ein Zehn-Jahres-Plan wäre mir zu bequem und würde mir auch gestalterische Freiheit nehmen. Es wird in den kommenden Jahren vieles geben, mit dem wir, ob wir wollen oder nicht, konfrontiert sein werden, und das eine oder andere Mal wird es auch nötig sein, mit unseren Mitteln, den Mitteln der Kunst, Stellung zu beziehen. Und vielleicht will ich mich auch selber überraschen lassen können, weil mir etwas zufliegt, mich etwas in Erstaunen versetzt. Es ist doch wichtig und auch schön, wenn man sich bei allen langfristigen perspektivischen Parametern auch eine gewisse Leichtigkeit und Freiheit in den Entscheidungen bewahren kann.

Die erste Opernpremiere der diesjährigen Festspiele gilt Mozarts "Idomeneo". Es heißt, Peter Sellars will dabei den Klimawandel
thematisieren. Wie kann denn das geschehen?

Hinterhäuser: Warten wir es ab. Ich bin nicht dazu da, um mögliche interpretatorischen Lesarten preiszugeben. Grundsätzlich ist es aber so: Wenn wir uns diesen Sommer mit Fragen des Mythos, des Mythischen befassen, befassen wir uns auch mit einem der mythischen Erzählung eingeschriebenen Phänomen, nämlich dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Es geht um die Grausamkeit, die Unbarmherzigkeit der Natur, und die Verlorenheit des Menschen dieser Macht gegenüber. Nehmen Sie das Ende des 2. Akts im "Idomeneo", wo wir Zeugen eines Sturmes, einer ungeahnten Gewalt werden. Mozart hat gewusst: Die Natur gibt uns eine Antwort, und diese kann verheerend sein. Es ist das Meer, das dem Menschen seine Grenzen aufzeigt. Vielleicht nähert sich Peter Sellars auf diesem Weg dem "Idomeneo". Er ist ein so großer Künstler, der weiß ziemlich genau, wie er sein Navigationssystem einstellt und er weiß auch sehr genau, wohin ihn diese Reise führt. "Idomeneo" ist übrigens die einzige Oper, die er zum zweiten Mal inszeniert.

Mythos ist ja eine Art Generalthema der heurigen Festspiele.

Hinterhäuser: Der Mythos an sich, die Antike, ist ja nicht nur die Beschwörung eines idealen Zustandes der Schönheit, der Vollendung, der "herrlichen Menschheit", wie Schiller das beschrieben hat. In jeder Sekunde der Menschheitsgeschichte, bis in die heutige Zeit, ist die Antike auch ein Spiegel der zeitgenössischen Zerrissenheit. Wir korrespondieren mit der Antike. Ein schönes Beispiel gibt es von Heiner Müller, der einen Satz aus Goethes "Iphigenie" benutzt. Goethe schreibt: "Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht." Und Heiner Müller braucht nur einen einzigen Buchstaben, um alles auf den Kopf zu stellen: "Es fürchten die Götter das Menschengeschlecht." So weit spannt sich die Amplitude einer Auseinandersetzung mit der Antike, mit dem Mythos. Die großen, mythischen Erzählungen sind das Archiv unserer Welterkenntnis. Das, was wir dort finden, ist auch ein gewaltiges Maß an Leid. Das ist archaisch: die Opferung des eigenen Kindes, die Tötung des Vaters, der Inzest mit der Mutter. Der Philosoph George Steiner sagt, dass der Anspruch des Menschen auf seine Würde im Übermaß seines Leidens liegt. Das ist eine hoch interessante, bewegende und für unsere Zeit überaus wichtige Erkenntnis. Auch deswegen ist die Auseinandersetzung mit dem Mythos wichtig: Weil sie uns einen unerwarteten Blick auf uns selbst ermöglicht.

Sellars ist nicht nur der Regisseur der Eröffnungsproduktion, sondern auch der Festspielredner. Was prädestiniert ihn dafür?

Freundschaftlich verbundene Künstler: Regisseur Peter Sellars und Markus Hinterhäuser
Freundschaftlich verbundene Künstler: Regisseur Peter Sellars und Markus Hinterhäuser © Lupi Spuma

Hinterhäuser: Er ist nicht nur ein ganz großer Künstler, sondern auch einer der klügsten und wachsten Beobachter unserer Welt, und er ist in einem sehr guten und richtigen Sinn ein politischer Künstler. Er wird sich in seiner Rede mit einer der wesentlichsten und entscheidendsten Fragen unserer Zeit beschäftigen, dem Klimawandel. Dabei wird er auch auf seine abendliche Premiere zu sprechen kommen, den "Idomeneo", und er wird sich mit einer ganz entscheidenden Frage beschäftigen: Wollen wir diesen Planeten retten? Oder werden wir ihn aus Habgier und Verantwortungslosigkeit zugrunde richten?

Die Salzburger Festspiele sind selbst ein Mythos. 2020 werden sie 100 Jahre alt. Steht das Jubiläumsprogramm bereits komplett?

Hinterhäuser: Wir arbeiten sehr daran, und es wird in dem Moment seine endgültige Form gefunden haben, in dem das Programm Anfang November in Druck geht. Da gibt es noch viel an Feinarbeit zu bewältigen. Natürlich stehen die großen Dinge längst fest. Entscheidend wird auch sein, was rund um diese großen Produktionen geschieht. Der Reflexionsrahmen wird sich weiten und es wird große, starke, auch riskante musikalische und szenische Aussagen geben.

Besteht nicht die Gefahr, dabei zu sehr Rückschau zu halten?

Hinterhäuser: Nein, ganz und gar nicht. Wir werden in die Vergangenheit zurückblicken, immerhin sind 100 Jahre Salzburger Festspiele ja auch 100 Jahre Kulturgeschichte. Die Vergangenheit und die Tradition müssen ja keine Last sein, im Gegenteil, sie können eine große Bereicherung und Inspirationsquelle sein. Aber uns in diesem Rückblick vergangenheitstrunken und bequem einzurichten wird auch nicht gehen. Wir müssen uns zur Welt verhalten, diese Verantwortung haben wir. Kunst, Literatur und Musik sind ganz ephemer, aber in dieser Flüchtigkeit können sie große Stärke und Nachhaltigkeit entwickeln. Die Gedankenwelt eines Mozart, eines Shakespeare, eines Aischylos oder eines Beethoven liefern dafür unzählige Beispiele.

Sie haben heuer im Opernprogramm ein paar dieser großen mythischen Erzählungen einbezogen: Medea, Ödipus, Orpheus. Wie hat sich das jeweils auf dieses und jenes Werk konkretisiert?

Hinterhäuser: Begonnen hat alles mit "Idomeneo", genauso wie 2017
alles mit "La Clemenza di Tito" begonnen hat. Das war der Ausgangspunkt von allem. Der Möglichkeitssinn sagt mir, es gibt eine ungeheure Landkarte, an der ich mich orientieren kann. Der Wirklichkeitssinn versucht, bestimmte künstlerische Konstellationen in Salzburg zu realisieren. Man muss sich den Luxus erlauben, in längere Gespräche mit den Protagonisten eines solchen Vorgangs einzutreten. Die Entscheidung, welches Stück wesentlich ist, unterliegt dann subjektiven Kriterien. Ich kann ja keinen Objektivitätsanspruch stellen. Dass dann inmitten von "Idomeneo", "Medee" und "Oedipe" auch etwas hinzu kommt wie "Orphee aux enfers" von Offenbach, kann sehr anregend sein. In dieser wirklich komischen und auch beißenden Gesellschaftskritik findet der Aufstand gegen alle Autoritäten statt, die Götter sind völlig heruntergekommen und in ihrer Funktion zur Jämmerlichkeit verurteilt. Sie sind Teil eines Komödienspiels geworden, das keinen Einsatz mehr fordert. In einer ausgehöhlten sinnentleerten Welt, wie Offenbach das Paris seiner Zeit porträtiert hat, erscheint die antike Götterwelt wie ein Spuk, als hätte es sie nie gegeben.

Während Barrie Kosky damit sein Festspieldebüt gibt, setzen Sie in anderen Bereichen auf Kontinuität. Das gilt für Künstler wie Peter Sellars oder Simon Stone, aber auch für dramaturgische Überlegungen.

Hinterhäuser: Dass ich eine Kontinuität mit gewissen Künstlern habe, finde ich auch für eine Identitätsstiftung von Festspielenwesentlich. Dass ich versuche, für mich wesentliche Werke des 20. Jahrhunderts in einen Zusammenhang zu positionieren, in dem die Bedeutung dieser Werke deutlich wird, das ist tatsächlich eine dramaturgische Linie, die ich weiterführen werde.

Wo betreten Sie für sich Neuland in dieser Saison?

Hinterhäuser: Ich betrete in jeder Sekunde Neuland, und ich lade auch Menschen ein, Neuland zu betreten. Es gibt keine gesicherte Erkenntnis, auch nicht über das, was wir in diesem Sommer machen. Erstaunlich ist, wie schnell Inszenierungen "alt" werden können. Und manchmal brauchen Dinge einfach ihre Zeit. Ich habe letzten Sommer jede Aufführung der "Salome" gesehen, und ich habe das große Privileg als Intendant, in allen Proben sein zu können. Ich nutze dieses Privileg auch, und ich kann dennoch mit großer Sicherheit sagen, dass ich diese Aufführung noch immer nicht "kenne" - in all ihrer Rätselhaftigkeit, in ihren kryptischen Andeutungen, in der suggestiven Kraft und Gewalt, die sie entfaltet. Und ich freue mich unendlich, dass ich sie noch dreimal sehen kann in diesem Sommer und ich weiß, dass ich diese Freude mit viele anderen Menschen teile, denn die Aufführungen sind hoffnungslos überbucht.

Ihre "Winterreise" bringen Sie fünf Jahre nach der Festwochen-Premiere zu den Salzburger Festspielen.

Hinterhäuser: Auch für sie gibt es eine große Nachfrage. Wir zeigen sie, weil es langsam aber sicher mit dieser Produktion zu Ende geht. Matthias Goerne und ich haben die "Winterreise" in der ganzen Welt gespielt - von Sidney bis New York, von Moskau bis Barcelona, von Lissabon bis Singapur. Und wir werden sie Mitte Oktober noch einmal in Kyoto spielen.

Bei der Ouverture spirituelle sind Sie auch einmal im Einsatz.

Hinterhäuser: Ja, da spiele ich eine Sonate von Schostakowitsch, das ist die Hälfte eines Konzerts. Der wunderbare Bratscher Antoine Tamestit, mit dem ich befreundet bin, hat gemeint, wir könnten das doch zusammen machen. Warum nicht? Es wird aber auch Jahre geben, in denen ich definitiv nicht auftreten werde.

In einem unserer Gespräche haben Sie bedauert, dass das Konzertprogramm im Allgemeinen zu wenig Aufmerksamkeit erfährt.
Haben Sie spezielle Tipps für heuer?

Hinterhäuser: Das Konzertprogramm hat in den letzten Jahren durch
die enge Zusammenarbeit mit Florian Wiegand zu einer großen Stärke
gefunden. Wo wir definitiv am freiesten sind, ist die Ouverture  spirituelle. Ich glaube, da gibt es in diesem Sommer wirklich ein Wunder nach dem anderen zu entdecken. Ich möchte aber beim allerbesten Willen nicht auf etwas Besonderes hinweisen. Nur eines: Festspiele sind auch der Ort der kleineren Form, einer musikalischen Grammatik, die eines größeren Schutzes und einer größeren Zuwendung bedarf. Das Mozarteum als Fluchtort aus einer manchmal durchaus ermüdenden Betriebsamkeit in der Hofstallgasse kann ja durchaus "therapeutische" Qualitäten haben. Für mich als Intendant und Dauerbesucher der Festspiele sind das tatsächlich befreiende Momente, in diesem herrlichen Saal zu sitzen und einfach Musik zu hören. Musik und Kunst brauchen eine große und nachhaltige Freiheit des Erlebens und Empfindens. Kunst ist Freiheit.

Zuletzt noch ein Wort zum Schauspielprogramm?

Hinterhäuser: Es ist eine gute Zusammenarbeit mit Bettina Hering, und ich glaube, dass das Schauspielprogramm an Kraft gewonnen hat. Ich glaube auch, dass 2020 ein besonders starkes, aussagekräftiges Schauspielprogramm angeboten wird.

Die Leerstelle des nicht ersetzten "Young Directors Project" bleibt?

Hinterhäuser: Es gelingt uns derzeit noch nicht, diese Leerstelle zu füllen und jemanden zu finden, mit dessen Hilfe wir so eine Reihe finanzieren können. Das ist schmerzhaft, ein Young Directors Project würde den Festspielen durchaus guttun.

Hat sich nicht einmal für das Jubiläumsjahr 2020 jemand gefunden, das zu übernehmen?

Hinterhäuser: Es hätte gar keinen Sinn, dieses Projekt nur für ein Jahr aufleben zu lassen. Da braucht es schon eine andere zeitliche Perspektive und eine größere Nachhaltigkeit. Als Geburtstagsdekoration eignet sich ein solches Format wirklich nicht.

Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang von der Austria Presse Agentur.