GLORY TO THE QUEEN

Bewertung: *****

Die fantastisch ausgestattete und raffiniert inszenierte Netflix-Miniserie „Das Damengambit“ brach vorigen Herbst Rekorde und löste weltweit einen Schach-Hype aus. Sie erzählt vom rauschmittelabhängigen Waisenmädchen Beth Harmon (exzellent: Anya Taylor Joy), das die Welt der männlichen Schachgroßmeister nicht nur entert, sondern auf den Kopf stellt. Die Story ist gut.
Jene von Nona Gaprindaschwili, Nana Alexandria, Maia Tschiburdanidze und Nana Iosseliani aber ist besser – und echt noch dazu. Der Dokumentarfilm von Tatia Skhirtladze mit dem wohl an die Kultserie anlehnenden Titel „Glory to the Queen“ setzt den vier Schach-Ikonen, die das Schachspiel revolutionierten, ein fulminantes und launiges filmisches Denkmal. Großartige, kluge Hommage übers Gewinnen und Verlieren. Ein Film, der Mut und Selbstbestimmtheit impft. Die ausführliche Kritik zu unserem Film der Woche lesen Sie hier.  (js)

ORDINARY CREATURES

Bewertung: ***

Sie sind ein verpeiltes Paar: In einem alten, roten Volvo fahren Martha (Anna Mendelssohn) und Alex (Joep van der Geest) debattierend, streitend und über existenzielle Fragen sinnierend entlang der tschechisch-österreichischen Grenze. Sie sind so sehr mit sich beschäftigt, dass sie einen Hund totfahren. Dessen Herrchen (Alois Frank) folgt ihnen fortan durch Wald und Weiden. In lakonischen, visuell betörend inszenierten Szenen nimmt einen Regisseur Thomas Marschall mit auf einen durchgeknallten Roadtrip voll esoterischer Begegnungen, wilder Sexszenen, skurriler Settings, fantastischer bis verblödeter Dialoge sowie jeder Menge Kleintieren in Großaufnahmen. Schräge Kost, die so nur im Kino funktioniert. (js)

OECONOMIA

Bewertung: ***

Der Wirtschaftstheorie mit simplen Fragen näherzutreten, ist nicht die schlechteste Idee. „Oeconomia“ tut genau das. Regisseurin Carmen Losmann begibt sich in den „Maschinenraum des Kapitalismus“. Dort stellt sie den Figuren im Monopoly-Spiel der kapitalistischen Wirtschaftswelt insistierende Fragen zum Wachstumszwang und zur Geldschöpfung. Dort schwirren Begriffe wie „Consumer Sentiment“ oder „Wachstumsstimulierung“ herum. Einleuchtende Erklärungen zur Logik von Geldmenge, Verschuldung und Geldproduktion haben die Manager aber auch nicht. Losmanns Film ist dabei bewusst grundsätzlich. Die Schärfe ist subtil und die Player gesichtsloser als etwa im zynisch-genialen „Master Of The Universe“ mit dem Investmentbank-Aussteiger Rainer Voss. Die einzige explizite Kritik in „Oeconomia“ stammt von Diskutanten, die in der Fußgängerzone an einem Anti-Business-Meeting teilnehmen. Einer meint, die dominante Wirtschaftstheorie diene nur der Verschleierung von Macht. (mw)

IN THE MOOD FOR LOVE

Bewertung: *****

Farbenfroher und antizyklischer lässt sich eine Geschichte des Verliebens nicht erzählen als in Wong Kar-Wais Klassiker „Fa yeung nin wah - In the Mood for Love“ aus dem Jahr 2000. Zum historischen und persönlichen Rückblick der 60er-Jahre-Story (der Originaltitel bedeutet „Blumige Jahre“) mischt sich mittlerweile die Wehmut über den diktatorischen Niedergang Hongkongs. Doch die allmähliche, aber umso tiefere Begegnung zwischen Maggie Cheung und Tony Leung wirkt noch immer wunderbar zart. Fließende Slow-Motion-Shots von Christopher Doyle, herrliche Kostüme und die geniale Ohrwurm-Musik tun ihr übriges.

Die frische Restaurierung läuft der Nostalgie der Geschichte etwas zuwider, die digitalen Farben des Kodak-Materials wirken zuweilen etwas gedämpft. Wer in seinem und ihrem Kino die Chance auf eine hochauflösende 4K-Projektion hat, wird trotzdem auch vom Film überwältigt werden - und nicht nur von der (Kino)Liebe. (mw)

MARTIN MARGIELA - MYTHOS DER MODE

Bewertung: ***

Regisseur Reiner Holzemer („Dries“) hat das scheinbar Unmögliche möglich gemacht: Ein intimes Filmporträt über das Leben und Schaffen des kamerascheuen belgischen Designers Martin Margiela, dessen Gesicht bis heute kaum jemand kennt. „Meine Mode soll für sich selbst sprechen“, erklärt das „Phantom der Modebranche“, der auch in dem 90-minütigen Biopic nicht zu sehen ist. So ungewöhnlich wie der zurückgezogene Lebensstil des Modemachers sind auch die provokanten Kollektionen, mit denen Margiela Anfang der 1980er-Jahre die Fashionszene revolutionierte. Als Miterfinder konzeptioneller Mode scheute er weder vor ungewöhnlichen Materialien noch dem zerlegen und neu zusammensetzen von Second-Hand-Kleidung zurück. Offenherzig plaudert der Visionär in der Doku über seine Philosophie des Kunsthandwerks, die Gründung seines Labels Maison Martin Margiela und die Hintergründe seines überraschenden Ausstiegs aus der Modebranche 2008. (jb)

DAVID BYRNE'S AMERICAN UTOPIA

Bewertung: ***

Zwischen ausgedehntem Musik-Video und kurzweiliger Konzert-Bühnenshow legt David Byrne sein „American Utopia“ an. Der Talking Heads Frontman wendet sich zwischen den Songs auch immer wieder an Publikum und erzählt Anekdoten über seine Wahlheimat USA. Zwei Tänzer und 11 MusikerInnen begleiten ihn, alle in stahlgraue Anzüge gekleidet nach einer Choreographie von Annie-B Parson. Komplett befreit von Kabeln bewegen sie sich dabei über den von Glasperlen-Vorhängen eingegrenzten Bühnenraum. Die Musik stammt aus Byrnes gleichnamigen Album von 2018 und ist Teil eines größeren Projekts, das unter dem Namen „Reasons to Be Cheerful“ schon vor der Pandemie gute Laune verbreitet hat. Auch altbekannte Anti-Pop New-Wave-Hits der Talking Heads wie „Once in a Lifetime“ peppen das Show-Set auf.

Als Regisseur verantwortet kein Geringerer als Spike Lee die Filmversion der Show. Das Resultat ist unaufdringlich aber Lee-typisch dynamisch wie die Performer auf der Bühne. (mw)

EMA

Bewertung: *****

„Ema“ des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín („Jackie“, „No“) war einer der kraftvollsten Filme am Lido di Venezia vor zwei Jahren. Nun können Larraín und seine fantastische Hauptdarstellerin Mariana Di Girolamo die Wiedereröffnung der Kinos nicht mehr erwarten und präsentieren sich via Video-on-Demand. Sobald die Kinos wieder öffnen dürfen, soll das Werk aber auf jeden Fall auf die große Leinwand kommen. Die Energie, die der Film und seine eigenwillige Titelheldin ausstrahlen, können wir momentan auch gut gebrauchen. Reggaeton-Tanz, soziale Revolte, frei ausgelebte Liebe und Elternschaft finden im visuell und rhythmisch eindrucksvollen Drama vor dem neonfarben urbanen Hintergrund der Hügel von Valparaìso zueinander. Tänzerin Ema lebt und tanzt mit ihren Freundinnen, liebt wen sie will und kämpft um ein schwieriges Adoptivkind. Gael García Bernal gibt daneben den herrlich-unsympathischen Choreographen-Ehemann Gastón. (mw)

KAJILLIONAIRE

Bewertung: ****

Es war einer der unterhaltsamsten und seltsamsten Filme der vergangenen Viennale. Nun ist der dritte Film der Schriftstellerin, Schauspielerin, Regisseurin sowie Künstlerin Miranda July ein Jahr nach seiner Sundance-Premiere sang- und klanglos am normalen Kinostart vorbei ins Streaming-Angebot gewandert. Diesmal konzentriert sich das 47-jährige Multitalent voll auf die Regie, ohne eigene Rolle vor der Kamera wie noch in ihrem Debüt „Me and You and Everyone we know“ (2005) und „The Future“ (2011). Dafür hat sie nun für ihre seltsame Familiengeschichte ein formidables Darsteller-Ensemble verpflichtet.

Im Zentrum steht eine von Evan Rachel Wood gespielte Mittzwanzigerin, die auf den kuriosen Namen „Old Dolio“ hört. Sie lebt zusammen mit dem schon im Pensionsalter stehenden Paar Robert (Richard Jenkins) und Theresa (Debra Winger) in einem stillgelegten Büroraum hinter einer Fabrik in dem einmal am Tag Schaum aus der Decke kommt. Zusammen schlägt sich das Dreierteam am Rande der amerikanischen Konsumgesellschaft mit kleinen Trickbetrügereien und Diebstählen durch. Die Außenseiter leben damit bewusst auf Kosten des kapitalistischen Systems, das allen den trügerischen Traum verkauft, zum „Kajillionaire“ werden zu können. Miranda July gibt ihren eigenwillig-verschrobenen Figuren eine natürliche Kauzigkeit, bei der Wes Anderson neidisch werden könnte. (mw)

DER DISSIDENT

Bewertung: ***

Es sind Bilder, die man nicht mehr vergessen wird. Ein Ofen. Es ist der Tatort. Dort, in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul, vermuten die türkischen Ermittler und mehrere Geheimdienste ein Verbrechen. Dort soll der Journalist Jamal Khashoggi am 2. Oktober 2018 von einem 15-Mann-Kommando getötet und verbrannt worden sein, als er die letzten fehlenden Dokumente für die Hochzeit mit seiner Verlobten Hatice Cengiz abholen wollte. Um den beißenden Geruch von verbrennendem Menschenfleisch zu verbergen, haben sich die Täter Berge von Rindfleisch liefern lassen. Die Verlobte steht indes draußen. Sie wartet auf ihren Liebsten. Stundenlang, bis tief in die Nacht hinein. Niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass der Regimekritiker bereits tot ist. Und niemand denkt, was ein CIA-Bericht vor einigen Wochen auch bestätigt hat: dass der saudi-arabische Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) den Auftrag für den geplanten Mord durch ein Spezialkommando genehmigt hatte.

Oscar-Preisträger Bryan Fogel ("Ikarus") rollt den vielleicht perfekt geplanten Mord in seinem Dokumentarfilm "Der Dissident" spannend und hervorragend recherchiert auf: Der Regisseur zitiert aus Ermittlungsakten, hat Tondokumente der verwanzten Botschaft mit zynischen Gesprächsprotokollen seiner Henker und sogar Aufnahmen der Knochensäge.

Berührend sind die Szenen, die den langen Kampf der Verlobten und ihre ergreifenden Reden im US-Kongress oder vor den Vereinten Nationen zeigen. Wie in einem True-Crime-Thriller wird minutiös enthüllt, wie der Mord geplant und verübt wurde. Und wie Beweise verschwanden. Die Faktenlage ist erschütternd. Sehr oft droht sich einem beim Zuschauen der Magen umzudrehen. (js)